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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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haben. Wir können das also zunächst so bezeichnen, dass die Entwick-
lung auf eine Überwindung der Distanz in relativ äusserlicher Hinsicht,
auf Vergrösserung derselben in innerlicher Hinsicht ginge. Hier kann
das Recht dieses symbolischen Ausdrucks sich wieder an seiner An-
wendbarkeit auf einen ganz anderen Inhalt zeigen. Die Verhältnisse
des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im
ganzen so, dass er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den
ferneren mehr zu nähern. Die wachsende Lockerung des Familien-
zusammenhanges, das Gefühl unerträglicher Enge im Gebundensein an
den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung oft ebenso tragisch ver-
läuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität, die sich
grade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt -- diese
ganze Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Be-
ziehungen zu dem Fernsten, mit dem Interessiert-sein für weit Ent-
legenes, mit der Gedankengemeinschaft mit Kreisen, deren Verbindungen
alle räumliche Nähe ersetzen. Das Gesamtbild aus alledem bedeutet
doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen,
ein Distanzverringern in den mehr äusserlichen. Wie die kulturelle
Entwicklung bewirkt, dass das früher unbewusst und instinktiv Ge-
schehende später mit klarer Rechenschaft und zerlegendem Bewusstsein
geschieht, während andrerseits vieles, wozu es sonst angespannter Auf-
merksamkeit und bewusster Mühe bedurfte, zu mechanischer Gewöh-
nung und instinktmässiger Selbstverständlichkeit wird -- so wird hier,
entsprechend, das Entferntere näher, um den Preis, die Distanz zum
Näheren zu erweitern.

Der Umfang und die Intensität der Rolle, die das Geld in diesem
Doppelprozess spielt, ist zunächst als Überwindung der Distanz
sichtbar. Es bedarf keiner Ausführung, dass allein die Übersetzung
der Werte in die Geldform jene Interessenverknüpfungen ermöglicht,
die nach dem räumlichen Abstand der Interessenten überhaupt nicht
mehr fragen; erst durch sie kann, um ein Beispiel aus hunderten zu
nennen, ein deutscher Kapitalist, aber auch ein deutscher Arbeiter an
einem spanischen Ministerwechsel, an dem Ertrage afrikanischer Gold-
felder, an dem Ausgange einer südamerikanischen Revolution real be-
teiligt sein. Bedeutsamer aber erscheint mir das Geld als Träger der
entgegengesetzten Tendenz. Jene Lockerung des Familienzusammen-
hanges geht doch von der wirtschaftlichen Sonder-Interessiertheit der
einzelnen Mitglieder aus, die nur in der Geldwirtschaft möglich ist.
Sie bewirkt vor allem, dass die Existenz auf die ganz individuelle
Begabung gestellt werden kann; denn nur die Geldform des Äqui-
valents gestattet die Verwertung sehr spezialisierter Leistungen, die

Simmel, Philosophie des Geldes. 33

haben. Wir können das also zunächst so bezeichnen, daſs die Entwick-
lung auf eine Überwindung der Distanz in relativ äuſserlicher Hinsicht,
auf Vergröſserung derselben in innerlicher Hinsicht ginge. Hier kann
das Recht dieses symbolischen Ausdrucks sich wieder an seiner An-
wendbarkeit auf einen ganz anderen Inhalt zeigen. Die Verhältnisse
des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im
ganzen so, daſs er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den
ferneren mehr zu nähern. Die wachsende Lockerung des Familien-
zusammenhanges, das Gefühl unerträglicher Enge im Gebundensein an
den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung oft ebenso tragisch ver-
läuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität, die sich
grade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt — diese
ganze Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Be-
ziehungen zu dem Fernsten, mit dem Interessiert-sein für weit Ent-
legenes, mit der Gedankengemeinschaft mit Kreisen, deren Verbindungen
alle räumliche Nähe ersetzen. Das Gesamtbild aus alledem bedeutet
doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen,
ein Distanzverringern in den mehr äuſserlichen. Wie die kulturelle
Entwicklung bewirkt, daſs das früher unbewuſst und instinktiv Ge-
schehende später mit klarer Rechenschaft und zerlegendem Bewuſstsein
geschieht, während andrerseits vieles, wozu es sonst angespannter Auf-
merksamkeit und bewuſster Mühe bedurfte, zu mechanischer Gewöh-
nung und instinktmäſsiger Selbstverständlichkeit wird — so wird hier,
entsprechend, das Entferntere näher, um den Preis, die Distanz zum
Näheren zu erweitern.

Der Umfang und die Intensität der Rolle, die das Geld in diesem
Doppelprozeſs spielt, ist zunächst als Überwindung der Distanz
sichtbar. Es bedarf keiner Ausführung, daſs allein die Übersetzung
der Werte in die Geldform jene Interessenverknüpfungen ermöglicht,
die nach dem räumlichen Abstand der Interessenten überhaupt nicht
mehr fragen; erst durch sie kann, um ein Beispiel aus hunderten zu
nennen, ein deutscher Kapitalist, aber auch ein deutscher Arbeiter an
einem spanischen Ministerwechsel, an dem Ertrage afrikanischer Gold-
felder, an dem Ausgange einer südamerikanischen Revolution real be-
teiligt sein. Bedeutsamer aber erscheint mir das Geld als Träger der
entgegengesetzten Tendenz. Jene Lockerung des Familienzusammen-
hanges geht doch von der wirtschaftlichen Sonder-Interessiertheit der
einzelnen Mitglieder aus, die nur in der Geldwirtschaft möglich ist.
Sie bewirkt vor allem, daſs die Existenz auf die ganz individuelle
Begabung gestellt werden kann; denn nur die Geldform des Äqui-
valents gestattet die Verwertung sehr spezialisierter Leistungen, die

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[513/0537] haben. Wir können das also zunächst so bezeichnen, daſs die Entwick- lung auf eine Überwindung der Distanz in relativ äuſserlicher Hinsicht, auf Vergröſserung derselben in innerlicher Hinsicht ginge. Hier kann das Recht dieses symbolischen Ausdrucks sich wieder an seiner An- wendbarkeit auf einen ganz anderen Inhalt zeigen. Die Verhältnisse des modernen Menschen zu seinen Umgebungen entwickeln sich im ganzen so, daſs er seinen nächsten Kreisen ferner rückt, um sich den ferneren mehr zu nähern. Die wachsende Lockerung des Familien- zusammenhanges, das Gefühl unerträglicher Enge im Gebundensein an den nächsten Kreis, dem gegenüber Hingebung oft ebenso tragisch ver- läuft wie Befreiung, die steigende Betonung der Individualität, die sich grade von der unmittelbaren Umgebung am schärfsten abhebt — diese ganze Distanzierung geht Hand in Hand mit der Knüpfung von Be- ziehungen zu dem Fernsten, mit dem Interessiert-sein für weit Ent- legenes, mit der Gedankengemeinschaft mit Kreisen, deren Verbindungen alle räumliche Nähe ersetzen. Das Gesamtbild aus alledem bedeutet doch ein Distanznehmen in den eigentlich innerlichen Beziehungen, ein Distanzverringern in den mehr äuſserlichen. Wie die kulturelle Entwicklung bewirkt, daſs das früher unbewuſst und instinktiv Ge- schehende später mit klarer Rechenschaft und zerlegendem Bewuſstsein geschieht, während andrerseits vieles, wozu es sonst angespannter Auf- merksamkeit und bewuſster Mühe bedurfte, zu mechanischer Gewöh- nung und instinktmäſsiger Selbstverständlichkeit wird — so wird hier, entsprechend, das Entferntere näher, um den Preis, die Distanz zum Näheren zu erweitern. Der Umfang und die Intensität der Rolle, die das Geld in diesem Doppelprozeſs spielt, ist zunächst als Überwindung der Distanz sichtbar. Es bedarf keiner Ausführung, daſs allein die Übersetzung der Werte in die Geldform jene Interessenverknüpfungen ermöglicht, die nach dem räumlichen Abstand der Interessenten überhaupt nicht mehr fragen; erst durch sie kann, um ein Beispiel aus hunderten zu nennen, ein deutscher Kapitalist, aber auch ein deutscher Arbeiter an einem spanischen Ministerwechsel, an dem Ertrage afrikanischer Gold- felder, an dem Ausgange einer südamerikanischen Revolution real be- teiligt sein. Bedeutsamer aber erscheint mir das Geld als Träger der entgegengesetzten Tendenz. Jene Lockerung des Familienzusammen- hanges geht doch von der wirtschaftlichen Sonder-Interessiertheit der einzelnen Mitglieder aus, die nur in der Geldwirtschaft möglich ist. Sie bewirkt vor allem, daſs die Existenz auf die ganz individuelle Begabung gestellt werden kann; denn nur die Geldform des Äqui- valents gestattet die Verwertung sehr spezialisierter Leistungen, die Simmel, Philosophie des Geldes. 33

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/537>, abgerufen am 25.11.2024.