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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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stimmten Voraussetzungen und Forderungen her gliedert und um-
bildet -- unwiderleglich durch die kunstgeschichtliche Entwicklung
bewiesen, in der alles das, was eine Epoche für das wörtlich treue und
genau realistische Bild der Wirklichkeit hielt, durch eine spätere als
vorurteilsvoll und verfälscht erkannt worden ist, während sie nun
erst die Dinge, wie sie wirklich sind, darstelle. Der künstlerische
Realismus verfällt demselben Fehler wie der wissenschaftliche, wenn
er meint, ohne ein Apriori auszukommen, ohne eine Form, die, aus
den Anlagen und Bedürfnissen unserer Natur quellend, der sinnlichen
Wirklichkeit Gewandung oder Umgestaltung zuwachsen lässt. Diese
Umformung, die sie auf dem Wege in unser Bewusstsein erleidet, ist
zwar eine Schranke zwischen uns und ihrem unmittelbaren Sein, aber
zugleich die Bedingung, sie vorzustellen und darzustellen. Ja, in
gewissem Sinn mag der Naturalismus eine ganz besondere Distanzie-
rung den Dingen gegenüber bewirken, wenn wir nämlich auf die Vor-
liebe achten, mit der er seine Gegenstände im allertäglichsten Leben,
im Niedrigen und Banalen sucht. Denn da er eben zweifellos auch
eine Stilisierung ist, so wird diese um so fühlbarer, an je näherem,
roherem, irdischerem Materiale sie sich vollzieht; und bei dieser Diffe-
renz von Kunstform und Inhalt wird die erstere in ihrem Abstand
von der Wirklichkeit viel früher wirksam werden, als wenn sie an
einem Materiale zustande kommt, das schon von sich aus ihrem Sinne
näher steht.

Im ganzen nun geht das ästhetische Interesse der letzten Zeit
auf Vergrösserung der durch das Kunstwerden der Dinge geschaffnen
Distanz gegen sie. Ich erinnere an den ungeheuren Reiz, den zeitlich
und räumlich weit entfernte Kunststile für das Kunstgefühl der Gegen-
wart besitzen. Das Entfernte erregt sehr viele, lebhaft auf- und ab-
schwingende Vorstellungen und genügt damit unserem vielseitigen
Anregungsbedürfnis; doch klingt jede dieser fremden und fernen Vor-
stellungen wegen ihrer Beziehungslosigkeit zu unseren persönlichsten
und unmittelbaren Interessen nur leise an und mutet deshalb ge-
schwächten Nerven nur eine behagliche Anregung zu. Was wir den
"historischen Geist" in unserer Zeit nennen, ist vielleicht nicht nur
eine begünstigende Veranlassung dieser Erscheinung, sondern quillt mit
ihr aus der gleichen Ursache. Und wechselwirkend macht er, mit der
Fülle der inneren Beziehungen, die er uns zu räumlich und zeitlich
weit abstehenden Interessen gewährt, uns immer empfindlicher gegen
die Chocs und Wirrnisse, die uns aus der unmittelbaren Nähe und
Berührung mit Menschen und Dingen kommen. Die Flucht in das
Nicht-Gegenwärtige wird erleichtert, verlustloser, gewissermassen legiti-

stimmten Voraussetzungen und Forderungen her gliedert und um-
bildet — unwiderleglich durch die kunstgeschichtliche Entwicklung
bewiesen, in der alles das, was eine Epoche für das wörtlich treue und
genau realistische Bild der Wirklichkeit hielt, durch eine spätere als
vorurteilsvoll und verfälscht erkannt worden ist, während sie nun
erst die Dinge, wie sie wirklich sind, darstelle. Der künstlerische
Realismus verfällt demselben Fehler wie der wissenschaftliche, wenn
er meint, ohne ein Apriori auszukommen, ohne eine Form, die, aus
den Anlagen und Bedürfnissen unserer Natur quellend, der sinnlichen
Wirklichkeit Gewandung oder Umgestaltung zuwachsen läſst. Diese
Umformung, die sie auf dem Wege in unser Bewuſstsein erleidet, ist
zwar eine Schranke zwischen uns und ihrem unmittelbaren Sein, aber
zugleich die Bedingung, sie vorzustellen und darzustellen. Ja, in
gewissem Sinn mag der Naturalismus eine ganz besondere Distanzie-
rung den Dingen gegenüber bewirken, wenn wir nämlich auf die Vor-
liebe achten, mit der er seine Gegenstände im allertäglichsten Leben,
im Niedrigen und Banalen sucht. Denn da er eben zweifellos auch
eine Stilisierung ist, so wird diese um so fühlbarer, an je näherem,
roherem, irdischerem Materiale sie sich vollzieht; und bei dieser Diffe-
renz von Kunstform und Inhalt wird die erstere in ihrem Abstand
von der Wirklichkeit viel früher wirksam werden, als wenn sie an
einem Materiale zustande kommt, das schon von sich aus ihrem Sinne
näher steht.

Im ganzen nun geht das ästhetische Interesse der letzten Zeit
auf Vergröſserung der durch das Kunstwerden der Dinge geschaffnen
Distanz gegen sie. Ich erinnere an den ungeheuren Reiz, den zeitlich
und räumlich weit entfernte Kunststile für das Kunstgefühl der Gegen-
wart besitzen. Das Entfernte erregt sehr viele, lebhaft auf- und ab-
schwingende Vorstellungen und genügt damit unserem vielseitigen
Anregungsbedürfnis; doch klingt jede dieser fremden und fernen Vor-
stellungen wegen ihrer Beziehungslosigkeit zu unseren persönlichsten
und unmittelbaren Interessen nur leise an und mutet deshalb ge-
schwächten Nerven nur eine behagliche Anregung zu. Was wir den
„historischen Geist“ in unserer Zeit nennen, ist vielleicht nicht nur
eine begünstigende Veranlassung dieser Erscheinung, sondern quillt mit
ihr aus der gleichen Ursache. Und wechselwirkend macht er, mit der
Fülle der inneren Beziehungen, die er uns zu räumlich und zeitlich
weit abstehenden Interessen gewährt, uns immer empfindlicher gegen
die Chocs und Wirrnisse, die uns aus der unmittelbaren Nähe und
Berührung mit Menschen und Dingen kommen. Die Flucht in das
Nicht-Gegenwärtige wird erleichtert, verlustloser, gewissermaſsen legiti-

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[510/0534] stimmten Voraussetzungen und Forderungen her gliedert und um- bildet — unwiderleglich durch die kunstgeschichtliche Entwicklung bewiesen, in der alles das, was eine Epoche für das wörtlich treue und genau realistische Bild der Wirklichkeit hielt, durch eine spätere als vorurteilsvoll und verfälscht erkannt worden ist, während sie nun erst die Dinge, wie sie wirklich sind, darstelle. Der künstlerische Realismus verfällt demselben Fehler wie der wissenschaftliche, wenn er meint, ohne ein Apriori auszukommen, ohne eine Form, die, aus den Anlagen und Bedürfnissen unserer Natur quellend, der sinnlichen Wirklichkeit Gewandung oder Umgestaltung zuwachsen läſst. Diese Umformung, die sie auf dem Wege in unser Bewuſstsein erleidet, ist zwar eine Schranke zwischen uns und ihrem unmittelbaren Sein, aber zugleich die Bedingung, sie vorzustellen und darzustellen. Ja, in gewissem Sinn mag der Naturalismus eine ganz besondere Distanzie- rung den Dingen gegenüber bewirken, wenn wir nämlich auf die Vor- liebe achten, mit der er seine Gegenstände im allertäglichsten Leben, im Niedrigen und Banalen sucht. Denn da er eben zweifellos auch eine Stilisierung ist, so wird diese um so fühlbarer, an je näherem, roherem, irdischerem Materiale sie sich vollzieht; und bei dieser Diffe- renz von Kunstform und Inhalt wird die erstere in ihrem Abstand von der Wirklichkeit viel früher wirksam werden, als wenn sie an einem Materiale zustande kommt, das schon von sich aus ihrem Sinne näher steht. Im ganzen nun geht das ästhetische Interesse der letzten Zeit auf Vergröſserung der durch das Kunstwerden der Dinge geschaffnen Distanz gegen sie. Ich erinnere an den ungeheuren Reiz, den zeitlich und räumlich weit entfernte Kunststile für das Kunstgefühl der Gegen- wart besitzen. Das Entfernte erregt sehr viele, lebhaft auf- und ab- schwingende Vorstellungen und genügt damit unserem vielseitigen Anregungsbedürfnis; doch klingt jede dieser fremden und fernen Vor- stellungen wegen ihrer Beziehungslosigkeit zu unseren persönlichsten und unmittelbaren Interessen nur leise an und mutet deshalb ge- schwächten Nerven nur eine behagliche Anregung zu. Was wir den „historischen Geist“ in unserer Zeit nennen, ist vielleicht nicht nur eine begünstigende Veranlassung dieser Erscheinung, sondern quillt mit ihr aus der gleichen Ursache. Und wechselwirkend macht er, mit der Fülle der inneren Beziehungen, die er uns zu räumlich und zeitlich weit abstehenden Interessen gewährt, uns immer empfindlicher gegen die Chocs und Wirrnisse, die uns aus der unmittelbaren Nähe und Berührung mit Menschen und Dingen kommen. Die Flucht in das Nicht-Gegenwärtige wird erleichtert, verlustloser, gewissermaſsen legiti-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/534>, abgerufen am 22.11.2024.