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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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bestimmten oder sich ändernden Distanz zwischen beiden be-
zeichnen
. Es ist von vornherein schon ein symbolischer Ausdruck
für einen an sich unsagbaren Sachverhalt, wenn wir unser inneres
Dasein in ein zentrales Ich und darumgelagerte Inhalte scheiden; und
angesichts der ungeheuren Unterschiede der sinnlich-äusserlichen Ein-
drücke von den Dingen je nach ihrem Abstand von unseren Organen --
Unterschiede nicht nur der Deutlichkeit, sondern der Qualität und des
ganzen Charakters der empfangenen Bilder -- liegt es nahe, jene
Symbolisierung dahin auszudehnen, dass die Verschiedenheit auch der
innerlichsten Verhältnisse zu den Dingen als Verschiedenheit der
Distanz zu ihnen gedeutet werde.

Von den Erscheinungen, die von hier aus gesehen eine ein-
heitliche Reihe bilden, hebe ich zunächst die künstlerischen hervor.
Die innere Bedeutsamkeit der Kunststile lässt sich als eine Folge
der verschiedenen Distanz auslegen, die sie zwischen uns und
den Dingen herstellen. Alle Kunst verändert die Blickweite, in die
wir uns ursprünglich und natürlich zu der Wirklichkeit stellen. Sie
bringt sie uns einerseits näher, zu ihrem eigentlichen und innersten
Sinn setzt sie uns in ein unmittelbareres Verhältnis, hinter der kühlen
Fremdheit der Aussenwelt verrät sie uns die Beseeltheit des Seins,
durch die es uns verwandt und verständlich ist. Daneben aber stiftet
jede Kunst eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge, sie
lässt die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier
zwischen uns und sie, gleich dem feinen bläulichen Duft, der sich um
ferne Berge legt. An beide Seiten dieses Gegensatzes knüpfen sich
gleich starke Reize; die Spannung zwischen ihnen, ihre Verteilung
auf die Mannigfaltigkeit der Ansprüche an das Kunstwerk, giebt jedem
Kunststil sein eigenes Gepräge. Ja, die blosse Thatsache des Stiles
ist an sich schon einer der bedeutsamsten Fälle von Distanzierung.
Der Stil in der Äusserung unserer inneren Vorgänge besagt, dass diese
nicht mehr unmittelbar hervorsprudeln, sondern in dem Augenblick
ihres Offenbarwerdens ein Gewand umthun. Der Stil, als generelle
Formung des Individuellen, ist für dieses eine Hülle, die eine Schranke
und Distanzierung gegen den andern, der die Äusserung aufnimmt,
errichtet. Diesem Lebensprinzip aller Kunst: uns den Dingen da-
durch näher zu bringen, dass sie uns in eine Distanz von ihnen
stellt -- entzieht sich auch die naturalistische Kunst nicht, deren Sinn
doch ausschliesslich auf Überwindung der Distanz zwischen uns und
der Wirklichkeit gerichtet scheint. Denn nur eine Selbsttäuschung
kann den Naturalismus verkennen lassen, dass auch er ein Stil ist,
d. h. dass auch er die Unmittelbarkeit des Eindrucks von ganz be-

bestimmten oder sich ändernden Distanz zwischen beiden be-
zeichnen
. Es ist von vornherein schon ein symbolischer Ausdruck
für einen an sich unsagbaren Sachverhalt, wenn wir unser inneres
Dasein in ein zentrales Ich und darumgelagerte Inhalte scheiden; und
angesichts der ungeheuren Unterschiede der sinnlich-äuſserlichen Ein-
drücke von den Dingen je nach ihrem Abstand von unseren Organen —
Unterschiede nicht nur der Deutlichkeit, sondern der Qualität und des
ganzen Charakters der empfangenen Bilder — liegt es nahe, jene
Symbolisierung dahin auszudehnen, daſs die Verschiedenheit auch der
innerlichsten Verhältnisse zu den Dingen als Verschiedenheit der
Distanz zu ihnen gedeutet werde.

Von den Erscheinungen, die von hier aus gesehen eine ein-
heitliche Reihe bilden, hebe ich zunächst die künstlerischen hervor.
Die innere Bedeutsamkeit der Kunststile läſst sich als eine Folge
der verschiedenen Distanz auslegen, die sie zwischen uns und
den Dingen herstellen. Alle Kunst verändert die Blickweite, in die
wir uns ursprünglich und natürlich zu der Wirklichkeit stellen. Sie
bringt sie uns einerseits näher, zu ihrem eigentlichen und innersten
Sinn setzt sie uns in ein unmittelbareres Verhältnis, hinter der kühlen
Fremdheit der Auſsenwelt verrät sie uns die Beseeltheit des Seins,
durch die es uns verwandt und verständlich ist. Daneben aber stiftet
jede Kunst eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge, sie
läſst die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier
zwischen uns und sie, gleich dem feinen bläulichen Duft, der sich um
ferne Berge legt. An beide Seiten dieses Gegensatzes knüpfen sich
gleich starke Reize; die Spannung zwischen ihnen, ihre Verteilung
auf die Mannigfaltigkeit der Ansprüche an das Kunstwerk, giebt jedem
Kunststil sein eigenes Gepräge. Ja, die bloſse Thatsache des Stiles
ist an sich schon einer der bedeutsamsten Fälle von Distanzierung.
Der Stil in der Äuſserung unserer inneren Vorgänge besagt, daſs diese
nicht mehr unmittelbar hervorsprudeln, sondern in dem Augenblick
ihres Offenbarwerdens ein Gewand umthun. Der Stil, als generelle
Formung des Individuellen, ist für dieses eine Hülle, die eine Schranke
und Distanzierung gegen den andern, der die Äuſserung aufnimmt,
errichtet. Diesem Lebensprinzip aller Kunst: uns den Dingen da-
durch näher zu bringen, daſs sie uns in eine Distanz von ihnen
stellt — entzieht sich auch die naturalistische Kunst nicht, deren Sinn
doch ausschlieſslich auf Überwindung der Distanz zwischen uns und
der Wirklichkeit gerichtet scheint. Denn nur eine Selbsttäuschung
kann den Naturalismus verkennen lassen, daſs auch er ein Stil ist,
d. h. daſs auch er die Unmittelbarkeit des Eindrucks von ganz be-

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[509/0533] bestimmten oder sich ändernden Distanz zwischen beiden be- zeichnen. Es ist von vornherein schon ein symbolischer Ausdruck für einen an sich unsagbaren Sachverhalt, wenn wir unser inneres Dasein in ein zentrales Ich und darumgelagerte Inhalte scheiden; und angesichts der ungeheuren Unterschiede der sinnlich-äuſserlichen Ein- drücke von den Dingen je nach ihrem Abstand von unseren Organen — Unterschiede nicht nur der Deutlichkeit, sondern der Qualität und des ganzen Charakters der empfangenen Bilder — liegt es nahe, jene Symbolisierung dahin auszudehnen, daſs die Verschiedenheit auch der innerlichsten Verhältnisse zu den Dingen als Verschiedenheit der Distanz zu ihnen gedeutet werde. Von den Erscheinungen, die von hier aus gesehen eine ein- heitliche Reihe bilden, hebe ich zunächst die künstlerischen hervor. Die innere Bedeutsamkeit der Kunststile läſst sich als eine Folge der verschiedenen Distanz auslegen, die sie zwischen uns und den Dingen herstellen. Alle Kunst verändert die Blickweite, in die wir uns ursprünglich und natürlich zu der Wirklichkeit stellen. Sie bringt sie uns einerseits näher, zu ihrem eigentlichen und innersten Sinn setzt sie uns in ein unmittelbareres Verhältnis, hinter der kühlen Fremdheit der Auſsenwelt verrät sie uns die Beseeltheit des Seins, durch die es uns verwandt und verständlich ist. Daneben aber stiftet jede Kunst eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge, sie läſst die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier zwischen uns und sie, gleich dem feinen bläulichen Duft, der sich um ferne Berge legt. An beide Seiten dieses Gegensatzes knüpfen sich gleich starke Reize; die Spannung zwischen ihnen, ihre Verteilung auf die Mannigfaltigkeit der Ansprüche an das Kunstwerk, giebt jedem Kunststil sein eigenes Gepräge. Ja, die bloſse Thatsache des Stiles ist an sich schon einer der bedeutsamsten Fälle von Distanzierung. Der Stil in der Äuſserung unserer inneren Vorgänge besagt, daſs diese nicht mehr unmittelbar hervorsprudeln, sondern in dem Augenblick ihres Offenbarwerdens ein Gewand umthun. Der Stil, als generelle Formung des Individuellen, ist für dieses eine Hülle, die eine Schranke und Distanzierung gegen den andern, der die Äuſserung aufnimmt, errichtet. Diesem Lebensprinzip aller Kunst: uns den Dingen da- durch näher zu bringen, daſs sie uns in eine Distanz von ihnen stellt — entzieht sich auch die naturalistische Kunst nicht, deren Sinn doch ausschlieſslich auf Überwindung der Distanz zwischen uns und der Wirklichkeit gerichtet scheint. Denn nur eine Selbsttäuschung kann den Naturalismus verkennen lassen, daſs auch er ein Stil ist, d. h. daſs auch er die Unmittelbarkeit des Eindrucks von ganz be-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 509. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/533>, abgerufen am 22.11.2024.