Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

und Ausgestaltung in Hinsicht auf Allgemeinheit und Gleichheit be-
steht. --

Ich komme in dem Stilbilde der Gegenwart auf einen letzten
Zug, dessen Rationalistik den Einfluss des Geldwesens sichtbar macht.
Die geistigen Funktionen, mit deren Hülfe sich die Neuzeit der Welt
gegenüber abfindet und ihre inneren -- individuellen und sozialen --
Beziehungen regelt, kann man grossenteils als rechnende bezeichnen.
Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein grosses Rechenexempel zu
begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in
einem System von Zahlen aufzufangen, und Kant glaubt in der Natur-
lehre nur soviel eigentliche Wissenschaft zu finden, wie in ihr Mathe-
matik angewandt werden kann. Aber nicht nur die körperliche Welt
gilt es mit Wägen und Messen geistig zu bezwingen; den Wert des
Lebens selbst wollen Pessimismus wie Optimismus durch ein gegen-
seitiges Aufrechnen von Lust und Leid festsetzen, der zahlenmässigen
Fixierung beider Faktoren mindestens als ihrem Ideal zustrebend.
In derselben Richtung liegt die vielfache Bestimmung des öffentlichen
Lebens durch Majoritätsbeschlüsse. Die Majorisierung des Einzelnen
durch die Thatsache, dass andere, von vornherein doch nur gleich-
berechtigte, anderer Meinung sind, ist keineswegs so selbstverständlich,
wie sie uns heute erscheint; alte germanische Rechte kennen sie nicht:
wer dem Beschluss der Gemeinde nicht zustimmt, ist auch nicht durch
ihn gebunden; im Stammesrat der Irokesen, in den aragonesischen Cortes
bis ins 16. Jahrhundert hinein, im polnischen Reichstag und andern
Gemeinschaften gab es keine Überstimmung; der nicht einstimmige
Beschluss war ungültig. Das Prinzip, dass die Minorität sich zu fügen
hat, bedeutet, dass der absolute oder qualitative Wert der individuellen
Stimme auf eine Einheit von rein quantitativer Bedeutung reduziert
ist. Die demokratische Nivellierung, der jeder für einen und keiner
für mehr als einen gilt, ist das Korrelat oder die Voraussetzung dieses
rechnenden Verfahrens, in dem das arithmetische Mehr oder Weniger
unbenannter Einheiten die innere Wirklichkeit einer Gruppe ausdrückt
und ihre äussere lenkt. Dieses messende, wägende, rechnerisch exakte
Wesen der Neuzeit ist die reinste Ausgestaltung ihres Intellektualismus,
der freilich auch hier über der abstrakten Gleichheit die selbstsüch-
tigste Besonderung der Elemente wachsen lässt: denn mit feiner in-
stinktiver Einsicht versteht die Sprache unter einem "berechneten"
Menschen schlechthin einen, der im egoistischen Sinne berechnet
ist. Grade wie bei der Verwendung von "verständig" oder "vernünftig",
wird hier der scheinbar ganz unparteiische Formalismus des Begriffes

und Ausgestaltung in Hinsicht auf Allgemeinheit und Gleichheit be-
steht. —

Ich komme in dem Stilbilde der Gegenwart auf einen letzten
Zug, dessen Rationalistik den Einfluſs des Geldwesens sichtbar macht.
Die geistigen Funktionen, mit deren Hülfe sich die Neuzeit der Welt
gegenüber abfindet und ihre inneren — individuellen und sozialen —
Beziehungen regelt, kann man groſsenteils als rechnende bezeichnen.
Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein groſses Rechenexempel zu
begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in
einem System von Zahlen aufzufangen, und Kant glaubt in der Natur-
lehre nur soviel eigentliche Wissenschaft zu finden, wie in ihr Mathe-
matik angewandt werden kann. Aber nicht nur die körperliche Welt
gilt es mit Wägen und Messen geistig zu bezwingen; den Wert des
Lebens selbst wollen Pessimismus wie Optimismus durch ein gegen-
seitiges Aufrechnen von Lust und Leid festsetzen, der zahlenmäſsigen
Fixierung beider Faktoren mindestens als ihrem Ideal zustrebend.
In derselben Richtung liegt die vielfache Bestimmung des öffentlichen
Lebens durch Majoritätsbeschlüsse. Die Majorisierung des Einzelnen
durch die Thatsache, daſs andere, von vornherein doch nur gleich-
berechtigte, anderer Meinung sind, ist keineswegs so selbstverständlich,
wie sie uns heute erscheint; alte germanische Rechte kennen sie nicht:
wer dem Beschluſs der Gemeinde nicht zustimmt, ist auch nicht durch
ihn gebunden; im Stammesrat der Irokesen, in den aragonesischen Cortes
bis ins 16. Jahrhundert hinein, im polnischen Reichstag und andern
Gemeinschaften gab es keine Überstimmung; der nicht einstimmige
Beschluſs war ungültig. Das Prinzip, daſs die Minorität sich zu fügen
hat, bedeutet, daſs der absolute oder qualitative Wert der individuellen
Stimme auf eine Einheit von rein quantitativer Bedeutung reduziert
ist. Die demokratische Nivellierung, der jeder für einen und keiner
für mehr als einen gilt, ist das Korrelat oder die Voraussetzung dieses
rechnenden Verfahrens, in dem das arithmetische Mehr oder Weniger
unbenannter Einheiten die innere Wirklichkeit einer Gruppe ausdrückt
und ihre äuſsere lenkt. Dieses messende, wägende, rechnerisch exakte
Wesen der Neuzeit ist die reinste Ausgestaltung ihres Intellektualismus,
der freilich auch hier über der abstrakten Gleichheit die selbstsüch-
tigste Besonderung der Elemente wachsen läſst: denn mit feiner in-
stinktiver Einsicht versteht die Sprache unter einem „berechneten“
Menschen schlechthin einen, der im egoistischen Sinne berechnet
ist. Grade wie bei der Verwendung von „verständig“ oder „vernünftig“,
wird hier der scheinbar ganz unparteiische Formalismus des Begriffes

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0496" n="472"/>
und Ausgestaltung in Hinsicht auf Allgemeinheit und Gleichheit be-<lb/>
steht. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Ich komme in dem Stilbilde der Gegenwart auf einen letzten<lb/>
Zug, dessen Rationalistik den Einflu&#x017F;s des Geldwesens sichtbar macht.<lb/>
Die geistigen Funktionen, mit deren Hülfe sich die Neuzeit der Welt<lb/>
gegenüber abfindet und ihre inneren &#x2014; individuellen und sozialen &#x2014;<lb/>
Beziehungen regelt, kann man gro&#x017F;senteils als <hi rendition="#g">rechnende</hi> bezeichnen.<lb/>
Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein gro&#x017F;ses Rechenexempel zu<lb/>
begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in<lb/>
einem System von Zahlen aufzufangen, und Kant glaubt in der Natur-<lb/>
lehre nur soviel eigentliche Wissenschaft zu finden, wie in ihr Mathe-<lb/>
matik angewandt werden kann. Aber nicht nur die körperliche Welt<lb/>
gilt es mit Wägen und Messen geistig zu bezwingen; den Wert des<lb/>
Lebens selbst wollen Pessimismus wie Optimismus durch ein gegen-<lb/>
seitiges Aufrechnen von Lust und Leid festsetzen, der zahlenmä&#x017F;sigen<lb/>
Fixierung beider Faktoren mindestens als ihrem Ideal zustrebend.<lb/>
In derselben Richtung liegt die vielfache Bestimmung des öffentlichen<lb/>
Lebens durch Majoritätsbeschlüsse. Die Majorisierung des Einzelnen<lb/>
durch die Thatsache, da&#x017F;s andere, von vornherein doch nur gleich-<lb/>
berechtigte, anderer Meinung sind, ist keineswegs so selbstverständlich,<lb/>
wie sie uns heute erscheint; alte germanische Rechte kennen sie nicht:<lb/>
wer dem Beschlu&#x017F;s der Gemeinde nicht zustimmt, ist auch nicht durch<lb/>
ihn gebunden; im Stammesrat der Irokesen, in den aragonesischen Cortes<lb/>
bis ins 16. Jahrhundert hinein, im polnischen Reichstag und andern<lb/>
Gemeinschaften gab es keine Überstimmung; der nicht einstimmige<lb/>
Beschlu&#x017F;s war ungültig. Das Prinzip, da&#x017F;s die Minorität sich zu fügen<lb/>
hat, bedeutet, da&#x017F;s der absolute oder qualitative Wert der individuellen<lb/>
Stimme auf eine Einheit von rein quantitativer Bedeutung reduziert<lb/>
ist. Die demokratische Nivellierung, der jeder für einen und keiner<lb/>
für mehr als einen gilt, ist das Korrelat oder die Voraussetzung dieses<lb/>
rechnenden Verfahrens, in dem das arithmetische Mehr oder Weniger<lb/>
unbenannter Einheiten die innere Wirklichkeit einer Gruppe ausdrückt<lb/>
und ihre äu&#x017F;sere lenkt. Dieses messende, wägende, rechnerisch exakte<lb/>
Wesen der Neuzeit ist die reinste Ausgestaltung ihres Intellektualismus,<lb/>
der freilich auch hier über der abstrakten Gleichheit die selbstsüch-<lb/>
tigste Besonderung der Elemente wachsen lä&#x017F;st: denn mit feiner in-<lb/>
stinktiver Einsicht versteht die Sprache unter einem &#x201E;berechneten&#x201C;<lb/>
Menschen schlechthin einen, der im <hi rendition="#g">egoistischen</hi> Sinne berechnet<lb/>
ist. Grade wie bei der Verwendung von &#x201E;verständig&#x201C; oder &#x201E;vernünftig&#x201C;,<lb/>
wird hier der scheinbar ganz unparteiische Formalismus des Begriffes<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[472/0496] und Ausgestaltung in Hinsicht auf Allgemeinheit und Gleichheit be- steht. — Ich komme in dem Stilbilde der Gegenwart auf einen letzten Zug, dessen Rationalistik den Einfluſs des Geldwesens sichtbar macht. Die geistigen Funktionen, mit deren Hülfe sich die Neuzeit der Welt gegenüber abfindet und ihre inneren — individuellen und sozialen — Beziehungen regelt, kann man groſsenteils als rechnende bezeichnen. Ihr Erkenntnisideal ist, die Welt als ein groſses Rechenexempel zu begreifen, die Vorgänge und qualitativen Bestimmtheiten der Dinge in einem System von Zahlen aufzufangen, und Kant glaubt in der Natur- lehre nur soviel eigentliche Wissenschaft zu finden, wie in ihr Mathe- matik angewandt werden kann. Aber nicht nur die körperliche Welt gilt es mit Wägen und Messen geistig zu bezwingen; den Wert des Lebens selbst wollen Pessimismus wie Optimismus durch ein gegen- seitiges Aufrechnen von Lust und Leid festsetzen, der zahlenmäſsigen Fixierung beider Faktoren mindestens als ihrem Ideal zustrebend. In derselben Richtung liegt die vielfache Bestimmung des öffentlichen Lebens durch Majoritätsbeschlüsse. Die Majorisierung des Einzelnen durch die Thatsache, daſs andere, von vornherein doch nur gleich- berechtigte, anderer Meinung sind, ist keineswegs so selbstverständlich, wie sie uns heute erscheint; alte germanische Rechte kennen sie nicht: wer dem Beschluſs der Gemeinde nicht zustimmt, ist auch nicht durch ihn gebunden; im Stammesrat der Irokesen, in den aragonesischen Cortes bis ins 16. Jahrhundert hinein, im polnischen Reichstag und andern Gemeinschaften gab es keine Überstimmung; der nicht einstimmige Beschluſs war ungültig. Das Prinzip, daſs die Minorität sich zu fügen hat, bedeutet, daſs der absolute oder qualitative Wert der individuellen Stimme auf eine Einheit von rein quantitativer Bedeutung reduziert ist. Die demokratische Nivellierung, der jeder für einen und keiner für mehr als einen gilt, ist das Korrelat oder die Voraussetzung dieses rechnenden Verfahrens, in dem das arithmetische Mehr oder Weniger unbenannter Einheiten die innere Wirklichkeit einer Gruppe ausdrückt und ihre äuſsere lenkt. Dieses messende, wägende, rechnerisch exakte Wesen der Neuzeit ist die reinste Ausgestaltung ihres Intellektualismus, der freilich auch hier über der abstrakten Gleichheit die selbstsüch- tigste Besonderung der Elemente wachsen läſst: denn mit feiner in- stinktiver Einsicht versteht die Sprache unter einem „berechneten“ Menschen schlechthin einen, der im egoistischen Sinne berechnet ist. Grade wie bei der Verwendung von „verständig“ oder „vernünftig“, wird hier der scheinbar ganz unparteiische Formalismus des Begriffes

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/496
Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/496>, abgerufen am 22.11.2024.