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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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eine ungeheure Anzahl von Zwecksystemen hindurchbewegt, von deren
jedem es nur einen geringen Teil beherrschen, ja nur übersehen kann,
und dass so gegenüber der Einfachheit primitiven Daseins eine be-
ängstigende Differenziertheit der Lebenselemente entsteht; der Gedanke
eines Endzwecks, in dem alles dies wieder seine Versöhnung fände,
dessen es aber bei undifferenzierten Verhältnissen und Menschen gar
nicht bedarf, ist der Frieden und die Erlösung in der Zersplitterung
und dem fragmentarischen Charakter der Kultur. Und mit je weiteren
qualitativen Differenzen die Elemente der Existenz auseinanderliegen,
in desto abstrakterer Höhe über jedem muss ersichtlich der Endzweck
stehen, der das Leben als Einheit zu empfinden ermöglicht; nach dem
die Sehnsucht nun keineswegs immer in bewusster Formulierung zu
bestehen braucht, sondern auch, nicht weniger stark, als ein dumpfer
Trieb, Sehnsucht, Unbefriedigtheit der Massen. Am Beginn unserer
Zeitrechnung war offenbar die griechisch-römische Kultur auf diesen
Punkt gekommen. Das Leben war ein so vielgliedriges und lang-
sichtiges Zweckgewebe geworden, dass sich als sein Destillat und focus
imaginarius mit ungeheurer Gewalt das Gefühl erhob: wo liegt nun
der definitive Zweck dieses Ganzen, der endgültige Abschluss, der
sich nicht mehr wie alles, was wir sonst erstreben, schliesslich als
blosses Mittel enthüllt? Der resignierte oder grollende Pessimismus
jener Zeit, ihr besinnungsloses Geniessen, das freilich in seinem Augen-
blicksdasein einen nicht über sich hinausfragenden Zweck fand, auf
der einen Seite, ihre mystisch-asketischen Tendenzen auf der anderen --
sie sind der Ausdruck jenes dunklen Suchens nach einem abschliessen-
den Sinn des Lebens, jener Angst um den Endzweck der ganzen
Mannigfaltigkeit und Mühsal seines Apparates von Mitteln. Diesem
Bedürfnis nun brachte das Christentum eine strahlende Erfüllung.
Zum erstenmal in der abendländischen Geschichte wurde hier den
Massen ein wirklicher Endzweck des Lebens geboten, ein absoluter
Wert des Seins, jenseits alles Einzelnen, Fragmentarischen, Widersinnigen
der empirischen Welt: das Heil der Seele und das Reich Gottes.
Nun war für jede Seele Platz in Gottes Hause, und indem sie der
Träger ihres ewigen Heils war, wurde jede einzelne, die unschein-
barste und niedrigste wie die des Helden und Weisen, unendlich
wertvoll. Durch ihre Beziehung zu dem einen Gott strahlte alle Be-
deutung, alle Absolutheit, alle Jenseitigkeit seiner auf sie zurück: so
war sie durch den ungeheuren Machtspruch, der ihr ein ewiges Schick-
sal und eine grenzenlose Bedeutung verkündete, mit einem Schlage
allem bloss Relativen, jedem blossen Mehr oder Weniger der Würdigung
enthoben. Nun hat freilich der Endzweck, an den das Christentum

eine ungeheure Anzahl von Zwecksystemen hindurchbewegt, von deren
jedem es nur einen geringen Teil beherrschen, ja nur übersehen kann,
und daſs so gegenüber der Einfachheit primitiven Daseins eine be-
ängstigende Differenziertheit der Lebenselemente entsteht; der Gedanke
eines Endzwecks, in dem alles dies wieder seine Versöhnung fände,
dessen es aber bei undifferenzierten Verhältnissen und Menschen gar
nicht bedarf, ist der Frieden und die Erlösung in der Zersplitterung
und dem fragmentarischen Charakter der Kultur. Und mit je weiteren
qualitativen Differenzen die Elemente der Existenz auseinanderliegen,
in desto abstrakterer Höhe über jedem muſs ersichtlich der Endzweck
stehen, der das Leben als Einheit zu empfinden ermöglicht; nach dem
die Sehnsucht nun keineswegs immer in bewuſster Formulierung zu
bestehen braucht, sondern auch, nicht weniger stark, als ein dumpfer
Trieb, Sehnsucht, Unbefriedigtheit der Massen. Am Beginn unserer
Zeitrechnung war offenbar die griechisch-römische Kultur auf diesen
Punkt gekommen. Das Leben war ein so vielgliedriges und lang-
sichtiges Zweckgewebe geworden, daſs sich als sein Destillat und focus
imaginarius mit ungeheurer Gewalt das Gefühl erhob: wo liegt nun
der definitive Zweck dieses Ganzen, der endgültige Abschluſs, der
sich nicht mehr wie alles, was wir sonst erstreben, schlieſslich als
bloſses Mittel enthüllt? Der resignierte oder grollende Pessimismus
jener Zeit, ihr besinnungsloses Genieſsen, das freilich in seinem Augen-
blicksdasein einen nicht über sich hinausfragenden Zweck fand, auf
der einen Seite, ihre mystisch-asketischen Tendenzen auf der anderen —
sie sind der Ausdruck jenes dunklen Suchens nach einem abschlieſsen-
den Sinn des Lebens, jener Angst um den Endzweck der ganzen
Mannigfaltigkeit und Mühsal seines Apparates von Mitteln. Diesem
Bedürfnis nun brachte das Christentum eine strahlende Erfüllung.
Zum erstenmal in der abendländischen Geschichte wurde hier den
Massen ein wirklicher Endzweck des Lebens geboten, ein absoluter
Wert des Seins, jenseits alles Einzelnen, Fragmentarischen, Widersinnigen
der empirischen Welt: das Heil der Seele und das Reich Gottes.
Nun war für jede Seele Platz in Gottes Hause, und indem sie der
Träger ihres ewigen Heils war, wurde jede einzelne, die unschein-
barste und niedrigste wie die des Helden und Weisen, unendlich
wertvoll. Durch ihre Beziehung zu dem einen Gott strahlte alle Be-
deutung, alle Absolutheit, alle Jenseitigkeit seiner auf sie zurück: so
war sie durch den ungeheuren Machtspruch, der ihr ein ewiges Schick-
sal und eine grenzenlose Bedeutung verkündete, mit einem Schlage
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enthoben. Nun hat freilich der Endzweck, an den das Christentum

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[372/0396] eine ungeheure Anzahl von Zwecksystemen hindurchbewegt, von deren jedem es nur einen geringen Teil beherrschen, ja nur übersehen kann, und daſs so gegenüber der Einfachheit primitiven Daseins eine be- ängstigende Differenziertheit der Lebenselemente entsteht; der Gedanke eines Endzwecks, in dem alles dies wieder seine Versöhnung fände, dessen es aber bei undifferenzierten Verhältnissen und Menschen gar nicht bedarf, ist der Frieden und die Erlösung in der Zersplitterung und dem fragmentarischen Charakter der Kultur. Und mit je weiteren qualitativen Differenzen die Elemente der Existenz auseinanderliegen, in desto abstrakterer Höhe über jedem muſs ersichtlich der Endzweck stehen, der das Leben als Einheit zu empfinden ermöglicht; nach dem die Sehnsucht nun keineswegs immer in bewuſster Formulierung zu bestehen braucht, sondern auch, nicht weniger stark, als ein dumpfer Trieb, Sehnsucht, Unbefriedigtheit der Massen. Am Beginn unserer Zeitrechnung war offenbar die griechisch-römische Kultur auf diesen Punkt gekommen. Das Leben war ein so vielgliedriges und lang- sichtiges Zweckgewebe geworden, daſs sich als sein Destillat und focus imaginarius mit ungeheurer Gewalt das Gefühl erhob: wo liegt nun der definitive Zweck dieses Ganzen, der endgültige Abschluſs, der sich nicht mehr wie alles, was wir sonst erstreben, schlieſslich als bloſses Mittel enthüllt? Der resignierte oder grollende Pessimismus jener Zeit, ihr besinnungsloses Genieſsen, das freilich in seinem Augen- blicksdasein einen nicht über sich hinausfragenden Zweck fand, auf der einen Seite, ihre mystisch-asketischen Tendenzen auf der anderen — sie sind der Ausdruck jenes dunklen Suchens nach einem abschlieſsen- den Sinn des Lebens, jener Angst um den Endzweck der ganzen Mannigfaltigkeit und Mühsal seines Apparates von Mitteln. Diesem Bedürfnis nun brachte das Christentum eine strahlende Erfüllung. Zum erstenmal in der abendländischen Geschichte wurde hier den Massen ein wirklicher Endzweck des Lebens geboten, ein absoluter Wert des Seins, jenseits alles Einzelnen, Fragmentarischen, Widersinnigen der empirischen Welt: das Heil der Seele und das Reich Gottes. Nun war für jede Seele Platz in Gottes Hause, und indem sie der Träger ihres ewigen Heils war, wurde jede einzelne, die unschein- barste und niedrigste wie die des Helden und Weisen, unendlich wertvoll. Durch ihre Beziehung zu dem einen Gott strahlte alle Be- deutung, alle Absolutheit, alle Jenseitigkeit seiner auf sie zurück: so war sie durch den ungeheuren Machtspruch, der ihr ein ewiges Schick- sal und eine grenzenlose Bedeutung verkündete, mit einem Schlage allem bloſs Relativen, jedem bloſsen Mehr oder Weniger der Würdigung enthoben. Nun hat freilich der Endzweck, an den das Christentum

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/396>, abgerufen am 09.11.2024.