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Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900.

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Einzelheiten täglichen Lebens gleichgültig sind oder sogar einen humo-
ristischen Zug haben, gewinnen ein tragisches nnd tief beängstigendes
Wesen, sobald wir ihre ungeheure Verbreitung, die Unvermeidlichkeit
ihrer Wiederholung, die Färbung nicht nur dieses, sondern jedes Tages
durch sie uns zum Bewusstsein bringen. Auf dem Gebiete des Rechts
wird die Thatsache der Schwelle durch das Prinzip: minima non curat
praetor -- markiert. Der Diebstahl einer Stecknadel ist etwas quantitativ
zu geringfügiges -- so entschieden er qualitativ und für das logische
Bewusstsein eben doch Diebstahl ist -- um den komplizierten psycho-
logischen Mechanismus des Rechtsbewusstseins in Bewegung zu setzen:
auch dieses hat also eine Schwelle, so dass unterhalb derselben ver-
bleibende Reizungen, obgleich sie andere Bewusstseinsprovinzen sehr
wohl erregen mögen, keinerlei psychisch-juridische Reaktion -- ganz
abgesehen von der staatlichen -- wecken. Aus der Thatsache, dass
auch das ökonomische Bewusstsein mit einer spezifischen Schwelle
ausgestattet ist, erklärt sich die allgemeine Neigung, statt einer
einmaligen grösseren Aufwendung lieber eine fortlaufende Reihe klei-
nerer zu machen, deren einzelne man "nicht merkt". Wenn daher
schon Pufendorf dem Fürsten vorschlägt, er solle lieber auf viele Gegen-
stände je eine geringe Steuer legen, statt auf einen einzigen eine hohe,
da das Volk sich sehr schwer vom Gelde trenne (fort dur a la desserre
sei), so macht diese Begründung ihren Angelpunkt gar nicht namhaft;
denn das Geld hergeben muss das Volk in der einen Form so gut wie
in der andern; nur dass die einzelne Hergabe in der einen unterhalb
der Schwelle des ökonomischen Bewusstseins bleibt und so die einzelne
hergegebene Summe nicht ebenso in die Kategorie des wirtschaftlichen
Rechnens, Empfindens, Reagierens aufsteigt -- grade wie zwei Gewichte,
deren jedes unterhalb der Schwelle des Druckbewusstseins bleibt, nach-
einander auf die Hand gelegt, gar keine Empfindung auslösen, dies
aber sogleich thun, wenn sie gleichzeitig wirken.

Lässt sich dies als ein passiver Widerstand an unseren einfachen
oder komplizierteren Empfindungen denken, nach dessen Überwin-
dung sie den Einfluss erst dem Bewusstsein übermitteln, so kann
nun dieser Widerstand auch ein aktiverer werden. Man kann sich
vorstellen, unsere aufnehmenden physisch-psychischen Organe be-
fänden sich in jedem gegebenen Moment in einem Zustand von
Bewegtheit bestimmter Richtung und Stärke, so dass die Wirkung
eines eintretenden Reizes von dem Verhältnis abhängt, das die von
ihm ausgehende innere Bewegung zu jener vorgefundenen besitzt: sie
kann sich dieser gleichgerichtet einordnen, so dass sie ungehemmte Aus-
breitungsmöglichkeit gewinnt, sie kann ihr auch zuwiderlaufen, so dass

Simmel, Philosophie des Geldes. 17

Einzelheiten täglichen Lebens gleichgültig sind oder sogar einen humo-
ristischen Zug haben, gewinnen ein tragisches nnd tief beängstigendes
Wesen, sobald wir ihre ungeheure Verbreitung, die Unvermeidlichkeit
ihrer Wiederholung, die Färbung nicht nur dieses, sondern jedes Tages
durch sie uns zum Bewuſstsein bringen. Auf dem Gebiete des Rechts
wird die Thatsache der Schwelle durch das Prinzip: minima non curat
praetor — markiert. Der Diebstahl einer Stecknadel ist etwas quantitativ
zu geringfügiges — so entschieden er qualitativ und für das logische
Bewuſstsein eben doch Diebstahl ist — um den komplizierten psycho-
logischen Mechanismus des Rechtsbewuſstseins in Bewegung zu setzen:
auch dieses hat also eine Schwelle, so daſs unterhalb derselben ver-
bleibende Reizungen, obgleich sie andere Bewuſstseinsprovinzen sehr
wohl erregen mögen, keinerlei psychisch-juridische Reaktion — ganz
abgesehen von der staatlichen — wecken. Aus der Thatsache, daſs
auch das ökonomische Bewuſstsein mit einer spezifischen Schwelle
ausgestattet ist, erklärt sich die allgemeine Neigung, statt einer
einmaligen gröſseren Aufwendung lieber eine fortlaufende Reihe klei-
nerer zu machen, deren einzelne man „nicht merkt“. Wenn daher
schon Pufendorf dem Fürsten vorschlägt, er solle lieber auf viele Gegen-
stände je eine geringe Steuer legen, statt auf einen einzigen eine hohe,
da das Volk sich sehr schwer vom Gelde trenne (fort dur à la desserre
sei), so macht diese Begründung ihren Angelpunkt gar nicht namhaft;
denn das Geld hergeben muſs das Volk in der einen Form so gut wie
in der andern; nur daſs die einzelne Hergabe in der einen unterhalb
der Schwelle des ökonomischen Bewuſstseins bleibt und so die einzelne
hergegebene Summe nicht ebenso in die Kategorie des wirtschaftlichen
Rechnens, Empfindens, Reagierens aufsteigt — grade wie zwei Gewichte,
deren jedes unterhalb der Schwelle des Druckbewuſstseins bleibt, nach-
einander auf die Hand gelegt, gar keine Empfindung auslösen, dies
aber sogleich thun, wenn sie gleichzeitig wirken.

Läſst sich dies als ein passiver Widerstand an unseren einfachen
oder komplizierteren Empfindungen denken, nach dessen Überwin-
dung sie den Einfluſs erst dem Bewuſstsein übermitteln, so kann
nun dieser Widerstand auch ein aktiverer werden. Man kann sich
vorstellen, unsere aufnehmenden physisch-psychischen Organe be-
fänden sich in jedem gegebenen Moment in einem Zustand von
Bewegtheit bestimmter Richtung und Stärke, so daſs die Wirkung
eines eintretenden Reizes von dem Verhältnis abhängt, das die von
ihm ausgehende innere Bewegung zu jener vorgefundenen besitzt: sie
kann sich dieser gleichgerichtet einordnen, so daſs sie ungehemmte Aus-
breitungsmöglichkeit gewinnt, sie kann ihr auch zuwiderlaufen, so daſs

Simmel, Philosophie des Geldes. 17
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[257/0281] Einzelheiten täglichen Lebens gleichgültig sind oder sogar einen humo- ristischen Zug haben, gewinnen ein tragisches nnd tief beängstigendes Wesen, sobald wir ihre ungeheure Verbreitung, die Unvermeidlichkeit ihrer Wiederholung, die Färbung nicht nur dieses, sondern jedes Tages durch sie uns zum Bewuſstsein bringen. Auf dem Gebiete des Rechts wird die Thatsache der Schwelle durch das Prinzip: minima non curat praetor — markiert. Der Diebstahl einer Stecknadel ist etwas quantitativ zu geringfügiges — so entschieden er qualitativ und für das logische Bewuſstsein eben doch Diebstahl ist — um den komplizierten psycho- logischen Mechanismus des Rechtsbewuſstseins in Bewegung zu setzen: auch dieses hat also eine Schwelle, so daſs unterhalb derselben ver- bleibende Reizungen, obgleich sie andere Bewuſstseinsprovinzen sehr wohl erregen mögen, keinerlei psychisch-juridische Reaktion — ganz abgesehen von der staatlichen — wecken. Aus der Thatsache, daſs auch das ökonomische Bewuſstsein mit einer spezifischen Schwelle ausgestattet ist, erklärt sich die allgemeine Neigung, statt einer einmaligen gröſseren Aufwendung lieber eine fortlaufende Reihe klei- nerer zu machen, deren einzelne man „nicht merkt“. Wenn daher schon Pufendorf dem Fürsten vorschlägt, er solle lieber auf viele Gegen- stände je eine geringe Steuer legen, statt auf einen einzigen eine hohe, da das Volk sich sehr schwer vom Gelde trenne (fort dur à la desserre sei), so macht diese Begründung ihren Angelpunkt gar nicht namhaft; denn das Geld hergeben muſs das Volk in der einen Form so gut wie in der andern; nur daſs die einzelne Hergabe in der einen unterhalb der Schwelle des ökonomischen Bewuſstseins bleibt und so die einzelne hergegebene Summe nicht ebenso in die Kategorie des wirtschaftlichen Rechnens, Empfindens, Reagierens aufsteigt — grade wie zwei Gewichte, deren jedes unterhalb der Schwelle des Druckbewuſstseins bleibt, nach- einander auf die Hand gelegt, gar keine Empfindung auslösen, dies aber sogleich thun, wenn sie gleichzeitig wirken. Läſst sich dies als ein passiver Widerstand an unseren einfachen oder komplizierteren Empfindungen denken, nach dessen Überwin- dung sie den Einfluſs erst dem Bewuſstsein übermitteln, so kann nun dieser Widerstand auch ein aktiverer werden. Man kann sich vorstellen, unsere aufnehmenden physisch-psychischen Organe be- fänden sich in jedem gegebenen Moment in einem Zustand von Bewegtheit bestimmter Richtung und Stärke, so daſs die Wirkung eines eintretenden Reizes von dem Verhältnis abhängt, das die von ihm ausgehende innere Bewegung zu jener vorgefundenen besitzt: sie kann sich dieser gleichgerichtet einordnen, so daſs sie ungehemmte Aus- breitungsmöglichkeit gewinnt, sie kann ihr auch zuwiderlaufen, so daſs Simmel, Philosophie des Geldes. 17

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/281>, abgerufen am 24.11.2024.