Jede Forschungsprovinz hat zwei Grenzen, an denen die Denk- bewegung aus der exakten in die philosophische Form übergeht. Die Voraussetzungen des Erkennens überhaupt, wie die Axiome jedes Sondergebietes verlegen ihre Darstellung und Prüfung aus diesem letzteren hinaus in eine prinzipiellere Wissenschaft, deren im Unend- lichen liegendes Ziel ist: voraussetzungslos zu denken -- ein Ziel, das die Einzelwissenschaften sich grundsätzlich versagen, weil sie keinen Schritt ohne Beweis, also ohne Voraussetzungen sachlicher und metho- discher Natur, thun; wogegen nur eine Selbsttäuschung die Philosophie den Punkt in ihr verleugnen lässt, an dem ein Machtspruch und der Appell an das Unbeweisbare in uns einsetzt und der freilich vermöge des Fortschritts der Beweisbarkeiten nie definitiv festliegt. Zeichnet der Beginn des philosophischen Gebietes hier gleichsam die untere Grenze des exakten, so liegt dessen obere da, wo die immer fragmentarischen Inhalte des positiven Wissens sich durch abschliessende Begriffe zu einem Weltbild zu ergänzen und auf die Ganzheit des Lebens zu be- ziehen verlangen. Wenn die Geschichte der Wissenschaften wirklich die philosophische Erkenntnisart als die primitive zeigt, als einen blossen Überschlag über die Erscheinungen in allgemeinen Begriffen -- so ist dieses vorläufige Verfahren doch noch nicht allen Fragen gegenüber entbehrlich, nämlich denjenigen, besonders den Wertungen und den allgemeinsten Zusammenhängen des geistigen Lebens angehörigen, auf die uns bis jetzt weder eine exakte Antwort noch ein Verzicht möglich ist. Ja vielleicht würde selbst die vollendete Empirie die Philosophie als eine Deutung, Färbung und individuell auswählende Betonung des Wirklichen grade so wenig ablösen, wie die Vollendung der mecha- nischen Reproduktion der Erscheinungen die bildende Kunst überflüssig machen würde.
Vorrede.
Jede Forschungsprovinz hat zwei Grenzen, an denen die Denk- bewegung aus der exakten in die philosophische Form übergeht. Die Voraussetzungen des Erkennens überhaupt, wie die Axiome jedes Sondergebietes verlegen ihre Darstellung und Prüfung aus diesem letzteren hinaus in eine prinzipiellere Wissenschaft, deren im Unend- lichen liegendes Ziel ist: voraussetzungslos zu denken — ein Ziel, das die Einzelwissenschaften sich grundsätzlich versagen, weil sie keinen Schritt ohne Beweis, also ohne Voraussetzungen sachlicher und metho- discher Natur, thun; wogegen nur eine Selbsttäuschung die Philosophie den Punkt in ihr verleugnen läſst, an dem ein Machtspruch und der Appell an das Unbeweisbare in uns einsetzt und der freilich vermöge des Fortschritts der Beweisbarkeiten nie definitiv festliegt. Zeichnet der Beginn des philosophischen Gebietes hier gleichsam die untere Grenze des exakten, so liegt dessen obere da, wo die immer fragmentarischen Inhalte des positiven Wissens sich durch abschlieſsende Begriffe zu einem Weltbild zu ergänzen und auf die Ganzheit des Lebens zu be- ziehen verlangen. Wenn die Geschichte der Wissenschaften wirklich die philosophische Erkenntnisart als die primitive zeigt, als einen bloſsen Überschlag über die Erscheinungen in allgemeinen Begriffen — so ist dieses vorläufige Verfahren doch noch nicht allen Fragen gegenüber entbehrlich, nämlich denjenigen, besonders den Wertungen und den allgemeinsten Zusammenhängen des geistigen Lebens angehörigen, auf die uns bis jetzt weder eine exakte Antwort noch ein Verzicht möglich ist. Ja vielleicht würde selbst die vollendete Empirie die Philosophie als eine Deutung, Färbung und individuell auswählende Betonung des Wirklichen grade so wenig ablösen, wie die Vollendung der mecha- nischen Reproduktion der Erscheinungen die bildende Kunst überflüssig machen würde.
<TEI><text><front><pbfacs="#f0015"n="[VII]"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Vorrede</hi>.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Jede Forschungsprovinz hat zwei Grenzen, an denen die Denk-<lb/>
bewegung aus der exakten in die philosophische Form übergeht. Die<lb/>
Voraussetzungen des Erkennens überhaupt, wie die Axiome jedes<lb/>
Sondergebietes verlegen ihre Darstellung und Prüfung aus diesem<lb/>
letzteren hinaus in eine prinzipiellere Wissenschaft, deren im Unend-<lb/>
lichen liegendes Ziel ist: voraussetzungslos zu denken — ein Ziel, das<lb/>
die Einzelwissenschaften sich grundsätzlich versagen, weil sie keinen<lb/>
Schritt ohne Beweis, also ohne Voraussetzungen sachlicher und metho-<lb/>
discher Natur, thun; wogegen nur eine Selbsttäuschung die Philosophie<lb/>
den Punkt in ihr verleugnen läſst, an dem ein Machtspruch und der<lb/>
Appell an das Unbeweisbare in uns einsetzt und der freilich vermöge<lb/>
des Fortschritts der Beweisbarkeiten nie definitiv festliegt. Zeichnet der<lb/>
Beginn des philosophischen Gebietes hier gleichsam die untere Grenze<lb/>
des exakten, so liegt dessen obere da, wo die immer fragmentarischen<lb/>
Inhalte des positiven Wissens sich durch abschlieſsende Begriffe zu<lb/>
einem Weltbild zu ergänzen und auf die Ganzheit des Lebens zu be-<lb/>
ziehen verlangen. Wenn die Geschichte der Wissenschaften wirklich<lb/>
die philosophische Erkenntnisart als die primitive zeigt, als einen bloſsen<lb/>
Überschlag über die Erscheinungen in allgemeinen Begriffen — so ist<lb/>
dieses vorläufige Verfahren doch noch nicht allen Fragen gegenüber<lb/>
entbehrlich, nämlich denjenigen, besonders den Wertungen und den<lb/>
allgemeinsten Zusammenhängen des geistigen Lebens angehörigen, auf<lb/>
die uns bis jetzt weder eine exakte Antwort noch ein Verzicht möglich<lb/>
ist. Ja vielleicht würde selbst die vollendete Empirie die Philosophie<lb/>
als eine Deutung, Färbung und individuell auswählende Betonung des<lb/>
Wirklichen grade so wenig ablösen, wie die Vollendung der mecha-<lb/>
nischen Reproduktion der Erscheinungen die bildende Kunst überflüssig<lb/>
machen würde.</p><lb/></div></front></text></TEI>
[[VII]/0015]
Vorrede.
Jede Forschungsprovinz hat zwei Grenzen, an denen die Denk-
bewegung aus der exakten in die philosophische Form übergeht. Die
Voraussetzungen des Erkennens überhaupt, wie die Axiome jedes
Sondergebietes verlegen ihre Darstellung und Prüfung aus diesem
letzteren hinaus in eine prinzipiellere Wissenschaft, deren im Unend-
lichen liegendes Ziel ist: voraussetzungslos zu denken — ein Ziel, das
die Einzelwissenschaften sich grundsätzlich versagen, weil sie keinen
Schritt ohne Beweis, also ohne Voraussetzungen sachlicher und metho-
discher Natur, thun; wogegen nur eine Selbsttäuschung die Philosophie
den Punkt in ihr verleugnen läſst, an dem ein Machtspruch und der
Appell an das Unbeweisbare in uns einsetzt und der freilich vermöge
des Fortschritts der Beweisbarkeiten nie definitiv festliegt. Zeichnet der
Beginn des philosophischen Gebietes hier gleichsam die untere Grenze
des exakten, so liegt dessen obere da, wo die immer fragmentarischen
Inhalte des positiven Wissens sich durch abschlieſsende Begriffe zu
einem Weltbild zu ergänzen und auf die Ganzheit des Lebens zu be-
ziehen verlangen. Wenn die Geschichte der Wissenschaften wirklich
die philosophische Erkenntnisart als die primitive zeigt, als einen bloſsen
Überschlag über die Erscheinungen in allgemeinen Begriffen — so ist
dieses vorläufige Verfahren doch noch nicht allen Fragen gegenüber
entbehrlich, nämlich denjenigen, besonders den Wertungen und den
allgemeinsten Zusammenhängen des geistigen Lebens angehörigen, auf
die uns bis jetzt weder eine exakte Antwort noch ein Verzicht möglich
ist. Ja vielleicht würde selbst die vollendete Empirie die Philosophie
als eine Deutung, Färbung und individuell auswählende Betonung des
Wirklichen grade so wenig ablösen, wie die Vollendung der mecha-
nischen Reproduktion der Erscheinungen die bildende Kunst überflüssig
machen würde.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Leipzig, 1900, S. [VII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_geld_1900/15>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.