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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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lung innehält; da nun die Masse als solche nicht differenziert
ist, so wird der Weg zu ihren Überzeugungen im allgemeinen
durch ihre Gefühle hindurchgehen; man wird also umgekehrt
wie beim Einzelnen auf diese wirken müssen, um jene zu
gestalten.

Hierzu mag eine Erscheinung beitragen, die sich beson-
ders deutlich an einer aktuell zusammenbefindlichen Menge
beobachten lässt: die Verstärkung eines Eindrucks oder Im-
pulses dadurch, dass er zugleich eine grosse Anzahl von Ein-
zelnen trifft. Ebenderselbe Eindruck, der uns, wenn er sich
nur auf uns richtet, ziemlich kühl lassen würde, kann eine
sehr starke Reaktion hervorrufen, sobald wir uns unter einer
grösseren Menge befinden, wenngleich jedes einzelne Mitglied
derselben im genau gleichen Falle ist; hundertfach lachen
wir im Theater oder in Versammlungen über Scherze, über
die wir im Zimmer nur die Achseln zucken würden, irgend ein
Impuls, dem jeder Einzelne nur sehr bedingt folgen würde,
bewegt ihn, sobald er sich in einer grossen Menge befindet,
zum Mitmachen der enthusiastischsten, lobens- oder tadelns-
werten Handlungsweisen. Das Mitgerissenwerden des Ein-
zelnen bei den Empfindungsäusserungen einer Menge bedeutet
keineswegs, dass jener an sich vollkommen passiv wäre und
zu seinem Verhalten nur durch die anderen, anders Gestimmten
angeregt würde; ihm mag es von seinem subjektiven Stand-
punkt aus so erscheinen; allein thatsächlich besteht die Masse
doch aus lauter Einzelnen, deren jedem es ebenso geht. Es
findet hier die reinste Wechselwirkung statt; jeder Einzelne
leistet seinen Beitrag zu der Gesamtstimmung, die auf ihn
freilich mit einem Quantum wirkt, in dem sein eigener Bei-
trag sich ihm verbirgt. Wenn man auch durchaus kein Ge-
setz aufstellen kann, das die Wirkung eines Reizes und die
Zahl der gleichzeitig von ihm Getroffenen in durchgängige
funktionelle Beziehung brächte, so ist doch im Ganzen kein
Zweifel, dass jene sich zugleich mit dieser erhöht. Daher die
oft ungeheure Wirkung flüchtiger Anregungen, die einer Masse
gegeben werden, das lawinenartige Anschwellen, das den
leisesten Impulsen von Liebe und Hass oft zu teil wird. Schon
an den heerdeweise lebenden Tieren ist dies festzustellen: der
leiseste Flügelschlag, der kleinste Sprung eines einzelnen artet
oft in einen panischen Schrecken der ganzen Heerde aus.
Eine der eigentümlichsten und durchsichtigsten Steigerungen
des Gefühls vermöge des gesellschaftlichen Zusammenseins
zeigen die Quäker. Obgleich die Innerlichkeit und der Sub-
jektivismus ihres religiösen Prinzips eigentlich jeder Gemein-
samkeit des Gottesdienstes widerstreitet, findet diese dennoch
statt, indessen oft so, dass sie stundenlang schweigend zu-
sammensitzen; und nun rechtfertigen sie diese Gemeinsam-
keit dadurch, dass sie uns dienen könne, uns dem Geiste

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lung innehält; da nun die Masse als solche nicht differenziert
ist, so wird der Weg zu ihren Überzeugungen im allgemeinen
durch ihre Gefühle hindurchgehen; man wird also umgekehrt
wie beim Einzelnen auf diese wirken müssen, um jene zu
gestalten.

Hierzu mag eine Erscheinung beitragen, die sich beson-
ders deutlich an einer aktuell zusammenbefindlichen Menge
beobachten läſst: die Verstärkung eines Eindrucks oder Im-
pulses dadurch, daſs er zugleich eine groſse Anzahl von Ein-
zelnen trifft. Ebenderselbe Eindruck, der uns, wenn er sich
nur auf uns richtet, ziemlich kühl lassen würde, kann eine
sehr starke Reaktion hervorrufen, sobald wir uns unter einer
gröſseren Menge befinden, wenngleich jedes einzelne Mitglied
derselben im genau gleichen Falle ist; hundertfach lachen
wir im Theater oder in Versammlungen über Scherze, über
die wir im Zimmer nur die Achseln zucken würden, irgend ein
Impuls, dem jeder Einzelne nur sehr bedingt folgen würde,
bewegt ihn, sobald er sich in einer groſsen Menge befindet,
zum Mitmachen der enthusiastischsten, lobens- oder tadelns-
werten Handlungsweisen. Das Mitgerissenwerden des Ein-
zelnen bei den Empfindungsäuſserungen einer Menge bedeutet
keineswegs, daſs jener an sich vollkommen passiv wäre und
zu seinem Verhalten nur durch die anderen, anders Gestimmten
angeregt würde; ihm mag es von seinem subjektiven Stand-
punkt aus so erscheinen; allein thatsächlich besteht die Masse
doch aus lauter Einzelnen, deren jedem es ebenso geht. Es
findet hier die reinste Wechselwirkung statt; jeder Einzelne
leistet seinen Beitrag zu der Gesamtstimmung, die auf ihn
freilich mit einem Quantum wirkt, in dem sein eigener Bei-
trag sich ihm verbirgt. Wenn man auch durchaus kein Ge-
setz aufstellen kann, das die Wirkung eines Reizes und die
Zahl der gleichzeitig von ihm Getroffenen in durchgängige
funktionelle Beziehung brächte, so ist doch im Ganzen kein
Zweifel, daſs jene sich zugleich mit dieser erhöht. Daher die
oft ungeheure Wirkung flüchtiger Anregungen, die einer Masse
gegeben werden, das lawinenartige Anschwellen, das den
leisesten Impulsen von Liebe und Haſs oft zu teil wird. Schon
an den heerdeweise lebenden Tieren ist dies festzustellen: der
leiseste Flügelschlag, der kleinste Sprung eines einzelnen artet
oft in einen panischen Schrecken der ganzen Heerde aus.
Eine der eigentümlichsten und durchsichtigsten Steigerungen
des Gefühls vermöge des gesellschaftlichen Zusammenseins
zeigen die Quäker. Obgleich die Innerlichkeit und der Sub-
jektivismus ihres religiösen Prinzips eigentlich jeder Gemein-
samkeit des Gottesdienstes widerstreitet, findet diese dennoch
statt, indessen oft so, daſs sie stundenlang schweigend zu-
sammensitzen; und nun rechtfertigen sie diese Gemeinsam-
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[80/0094] X 1. lung innehält; da nun die Masse als solche nicht differenziert ist, so wird der Weg zu ihren Überzeugungen im allgemeinen durch ihre Gefühle hindurchgehen; man wird also umgekehrt wie beim Einzelnen auf diese wirken müssen, um jene zu gestalten. Hierzu mag eine Erscheinung beitragen, die sich beson- ders deutlich an einer aktuell zusammenbefindlichen Menge beobachten läſst: die Verstärkung eines Eindrucks oder Im- pulses dadurch, daſs er zugleich eine groſse Anzahl von Ein- zelnen trifft. Ebenderselbe Eindruck, der uns, wenn er sich nur auf uns richtet, ziemlich kühl lassen würde, kann eine sehr starke Reaktion hervorrufen, sobald wir uns unter einer gröſseren Menge befinden, wenngleich jedes einzelne Mitglied derselben im genau gleichen Falle ist; hundertfach lachen wir im Theater oder in Versammlungen über Scherze, über die wir im Zimmer nur die Achseln zucken würden, irgend ein Impuls, dem jeder Einzelne nur sehr bedingt folgen würde, bewegt ihn, sobald er sich in einer groſsen Menge befindet, zum Mitmachen der enthusiastischsten, lobens- oder tadelns- werten Handlungsweisen. Das Mitgerissenwerden des Ein- zelnen bei den Empfindungsäuſserungen einer Menge bedeutet keineswegs, daſs jener an sich vollkommen passiv wäre und zu seinem Verhalten nur durch die anderen, anders Gestimmten angeregt würde; ihm mag es von seinem subjektiven Stand- punkt aus so erscheinen; allein thatsächlich besteht die Masse doch aus lauter Einzelnen, deren jedem es ebenso geht. Es findet hier die reinste Wechselwirkung statt; jeder Einzelne leistet seinen Beitrag zu der Gesamtstimmung, die auf ihn freilich mit einem Quantum wirkt, in dem sein eigener Bei- trag sich ihm verbirgt. Wenn man auch durchaus kein Ge- setz aufstellen kann, das die Wirkung eines Reizes und die Zahl der gleichzeitig von ihm Getroffenen in durchgängige funktionelle Beziehung brächte, so ist doch im Ganzen kein Zweifel, daſs jene sich zugleich mit dieser erhöht. Daher die oft ungeheure Wirkung flüchtiger Anregungen, die einer Masse gegeben werden, das lawinenartige Anschwellen, das den leisesten Impulsen von Liebe und Haſs oft zu teil wird. Schon an den heerdeweise lebenden Tieren ist dies festzustellen: der leiseste Flügelschlag, der kleinste Sprung eines einzelnen artet oft in einen panischen Schrecken der ganzen Heerde aus. Eine der eigentümlichsten und durchsichtigsten Steigerungen des Gefühls vermöge des gesellschaftlichen Zusammenseins zeigen die Quäker. Obgleich die Innerlichkeit und der Sub- jektivismus ihres religiösen Prinzips eigentlich jeder Gemein- samkeit des Gottesdienstes widerstreitet, findet diese dennoch statt, indessen oft so, daſs sie stundenlang schweigend zu- sammensitzen; und nun rechtfertigen sie diese Gemeinsam- keit dadurch, daſs sie uns dienen könne, uns dem Geiste

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/94>, abgerufen am 24.11.2024.