Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. Inhalts die Bedingung für seine relative Niedrigkeit gegenüberder Höhe der Differenzierungen, wozu dann das Korrelat der obige Satz ist, dass bei unausgebildetem socialem Niveau auch ein Mangel an individueller Differenziertheit herrschen muss. Dies ist ein sehr wichtiges Verhältnis, da es uns ver- X 1. Inhalts die Bedingung für seine relative Niedrigkeit gegenüberder Höhe der Differenzierungen, wozu dann das Korrelat der obige Satz ist, daſs bei unausgebildetem socialem Niveau auch ein Mangel an individueller Differenziertheit herrschen muſs. Dies ist ein sehr wichtiges Verhältnis, da es uns ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0092" n="78"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/> Inhalts die Bedingung für seine relative Niedrigkeit gegenüber<lb/> der Höhe der Differenzierungen, wozu dann das Korrelat der<lb/> obige Satz ist, daſs bei unausgebildetem socialem Niveau auch<lb/> ein Mangel an individueller Differenziertheit herrschen muſs.</p><lb/> <p>Dies ist ein sehr wichtiges Verhältnis, da es uns ver-<lb/> stehen lehrt, wie wenig dazu gehört, um sich in einer rohen<lb/> und tiefstehenden Horde zum Führer und Herrn aufzu-<lb/> schwingen. Dies ist auch an den rudelweise lebenden Tieren<lb/> charakteristisch, bei denen das führende Tier sich keineswegs<lb/> immer durch so besondere Eigenschaften auszeichnet, daſs sie<lb/> diese ganz besondere Stellung rechtfertigten; auch unter Kin-<lb/> dern in Schulklassen ist es häufig zu beobachten, daſs ein<lb/> Kind zu einer Art führender Stellung unter seinen Kameraden<lb/> gelangt, ohne durch besondere körperliche oder geistige Kräfte<lb/> dazu prädestiniert zu sein. Ein sehr geringes oder sehr ein-<lb/> seitiges Herausragen über den Durchschnitt bringt da schon<lb/> ein Überwiegen über sehr viele mit sich, wo die Schwan-<lb/> kungen um den Durchschnitt herum äuſserst geringe sind;<lb/> über eine stark differenzierte Gesellschaft sich zu erheben<lb/> ist deshalb um so viel schwerer, weil, wenn man auch in ge-<lb/> wissen Hinsichten den Durchschnitt überragt, immer andere<lb/> nach anderen Seiten Ausgebildete da sind, die es in Hinsicht<lb/> dieser thun. Es ist deshalb besonders charakteristisch, wenn<lb/> von den Küstennegern berichtet wird, daſs der geschickteste<lb/> Mann im Dorfe gewöhnlich Schmied, Tischler, Baumeister<lb/> und Weber in <hi rendition="#g">einer</hi> Person ist, und wenn bei den niedrig-<lb/> sten Stämmen die klugen Männer immer zugleich Priester,<lb/> Ärzte, Zauberer, Jugendlehrer u. s. w. sind. Eine Vereinigung<lb/> wirklicher specifischer Begabungen für alle diese verschie-<lb/> denen Funktionen ist kaum anzunehmen, sondern nur ein<lb/> Hervorragen nach irgend einer Seite, das sich aber bei der<lb/> Niedrigkeit des umgebenden allgemeinen Niveaus zu einer<lb/> überhaupt ausgezeichneten Stellung ausbildet. Das gleiche<lb/> Verhalten liegt der psychologischen Thatsache zu Grunde, daſs<lb/> ungebildete Menschen von demjenigen, der auf irgend einem<lb/> Gebiete Ungewöhnliches und ihnen Imponierendes leistet, nun<lb/> auch gleich in jeder sonstigen Hinsicht Auſserordentliches<lb/> voraussetzen und fordern. Bei der Fesselung des Individuums<lb/> an das gemeinsame und deshalb niedrigere Niveau genügt<lb/> schon ein geringes Maſs von differenzierender Erhebung<lb/> darüber, um nach allen Seiten die Situation zu beherrschen.<lb/> Man möchte es für eine der Zweckmäſsigkeiten der socialen<lb/> Evolution halten, daſs gerade auf den Stufen, wo Herrschaft<lb/> und Unterordnung den ersten und wichtigsten Grund der<lb/> Kultur zu legen haben, der durchgehende Mangel an Diffe-<lb/> renziertheit das Aufkommen herrschender Persönlichkeiten<lb/> erleichtert. Ein analoges Verhalten zeigen auch die Vor-<lb/> stellungen des Individuums. Je weniger differenziert, je un-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [78/0092]
X 1.
Inhalts die Bedingung für seine relative Niedrigkeit gegenüber
der Höhe der Differenzierungen, wozu dann das Korrelat der
obige Satz ist, daſs bei unausgebildetem socialem Niveau auch
ein Mangel an individueller Differenziertheit herrschen muſs.
Dies ist ein sehr wichtiges Verhältnis, da es uns ver-
stehen lehrt, wie wenig dazu gehört, um sich in einer rohen
und tiefstehenden Horde zum Führer und Herrn aufzu-
schwingen. Dies ist auch an den rudelweise lebenden Tieren
charakteristisch, bei denen das führende Tier sich keineswegs
immer durch so besondere Eigenschaften auszeichnet, daſs sie
diese ganz besondere Stellung rechtfertigten; auch unter Kin-
dern in Schulklassen ist es häufig zu beobachten, daſs ein
Kind zu einer Art führender Stellung unter seinen Kameraden
gelangt, ohne durch besondere körperliche oder geistige Kräfte
dazu prädestiniert zu sein. Ein sehr geringes oder sehr ein-
seitiges Herausragen über den Durchschnitt bringt da schon
ein Überwiegen über sehr viele mit sich, wo die Schwan-
kungen um den Durchschnitt herum äuſserst geringe sind;
über eine stark differenzierte Gesellschaft sich zu erheben
ist deshalb um so viel schwerer, weil, wenn man auch in ge-
wissen Hinsichten den Durchschnitt überragt, immer andere
nach anderen Seiten Ausgebildete da sind, die es in Hinsicht
dieser thun. Es ist deshalb besonders charakteristisch, wenn
von den Küstennegern berichtet wird, daſs der geschickteste
Mann im Dorfe gewöhnlich Schmied, Tischler, Baumeister
und Weber in einer Person ist, und wenn bei den niedrig-
sten Stämmen die klugen Männer immer zugleich Priester,
Ärzte, Zauberer, Jugendlehrer u. s. w. sind. Eine Vereinigung
wirklicher specifischer Begabungen für alle diese verschie-
denen Funktionen ist kaum anzunehmen, sondern nur ein
Hervorragen nach irgend einer Seite, das sich aber bei der
Niedrigkeit des umgebenden allgemeinen Niveaus zu einer
überhaupt ausgezeichneten Stellung ausbildet. Das gleiche
Verhalten liegt der psychologischen Thatsache zu Grunde, daſs
ungebildete Menschen von demjenigen, der auf irgend einem
Gebiete Ungewöhnliches und ihnen Imponierendes leistet, nun
auch gleich in jeder sonstigen Hinsicht Auſserordentliches
voraussetzen und fordern. Bei der Fesselung des Individuums
an das gemeinsame und deshalb niedrigere Niveau genügt
schon ein geringes Maſs von differenzierender Erhebung
darüber, um nach allen Seiten die Situation zu beherrschen.
Man möchte es für eine der Zweckmäſsigkeiten der socialen
Evolution halten, daſs gerade auf den Stufen, wo Herrschaft
und Unterordnung den ersten und wichtigsten Grund der
Kultur zu legen haben, der durchgehende Mangel an Diffe-
renziertheit das Aufkommen herrschender Persönlichkeiten
erleichtert. Ein analoges Verhalten zeigen auch die Vor-
stellungen des Individuums. Je weniger differenziert, je un-
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