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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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und gar von dem Kolorit des Menschentums ab. Erst die
Erhebung zu dem, was auch über diesem steht, zu der allge-
meinsten Naturgesetzlichkeit, schafft jene Gerechtigkeit der
Weltanschauung, die jedes Ding in seinem Fürsichsein, seiner
Individualität erkennt und anerkennt. Ich bin überzeugt:
wenn alle Bewegungen der Welt auf die allbeherrschende
Gesetzmässigkeit der Mechanik der Atome zurückgeführt
wären, so würden wir schärfer als je vorher erkennen, worin
sich jedes Wesen von jedem andern unterscheidet.

Dieses erkenntnistheoretische und psychologische Verhält-
nis erweitert sich, wenngleich dieselbe Entwicklungsform bei-
behaltend, sobald es sich statt um Naturgesetze um metaphy-
sische Allgemeinheiten handelt. Neben der Abstraktionskraft
des Verstandes ist es hier die Wärme des Gemütes, die aus
seinem Innersten die metaphysische Blüte hervortreibt, die
Innigkeit des Mitlebens mit den Erscheinungen der Welt, die
uns die allgemeinsten, überempirischen Triebkräfte ahnen lässt,
von denen sie im Innersten zusammengehalten wird. Und
ebendieselbe Tiefe und Sammlung des Empfindens flösst uns
oft eine heilige Scheu vor dem Individuellen der innern und
äusseren Erscheinungen ein, die uns nun gerade hindert, in
transcendenten Begriffen und Bildern gleichsam ein Asyl für
die Not oder auch nur für die Unerklärlichkeit des augen-
blicklichen Erlebens zu suchen. Nicht woher dieses Schicksal
kommt und wohin es geht, macht das aus, worauf es uns
ankommt, sondern dass es gerade dieses Eigenartige, in dieser
bestimmten Kombination mit nichts anderem Vergleichbare
ist. Während die höchsten metaphysischen Verallgemeine-
rungen dem verfeinerten Gefühlsleben entspringen, ist gerade
ein solches oft genug von dem Aufnehmen und Betrachten
der empirischen Welt der Einzelheiten zu sehr ergriffen, ist
zart genug organisiert, um alle die Schwankungen, Gegen-
sätze, Wunderlichkeiten in dem Verhältnis des Individuellen
zu bemerken, an denen der Stumpfsinnigere vorüberempfindet,
und begnügt sich mit dem blossen Anschauen und Anstaunen
dieses wechselvollen Spieles der Einzelheiten. Ich brauche es
kaum auszusprechen, dass es die ästhetische Naturanlage ist,
die diese Differenzierung am vollendetsten darstellt; sie sucht
einerseits die Ergänzung des Irdisch-Unvollkommenen im Bau
einer Idealwelt, in der die reinen typischen Formen wohnen,
andererseits die Versenkung in das Allereigenste, Allerindividu-
ellste der Erscheinungen und ihrer Schicksale. Und im
Praktisch-Ethischen knüpft sich das Interesse des Herzens
am wärmsten gerade an die engsten und dann wieder an die
weitesten Kreise der Pflichterfüllung: einerseits an die engste
Familie, andererseits an das Vaterland, einerseits an die Indi-
vidualität, andererseits an das Weltbürgertum; die Verpflich-
tungen für die dazwischen liegenden Kreise, so enge und

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und gar von dem Kolorit des Menschentums ab. Erst die
Erhebung zu dem, was auch über diesem steht, zu der allge-
meinsten Naturgesetzlichkeit, schafft jene Gerechtigkeit der
Weltanschauung, die jedes Ding in seinem Fürsichsein, seiner
Individualität erkennt und anerkennt. Ich bin überzeugt:
wenn alle Bewegungen der Welt auf die allbeherrschende
Gesetzmäſsigkeit der Mechanik der Atome zurückgeführt
wären, so würden wir schärfer als je vorher erkennen, worin
sich jedes Wesen von jedem andern unterscheidet.

Dieses erkenntnistheoretische und psychologische Verhält-
nis erweitert sich, wenngleich dieselbe Entwicklungsform bei-
behaltend, sobald es sich statt um Naturgesetze um metaphy-
sische Allgemeinheiten handelt. Neben der Abstraktionskraft
des Verstandes ist es hier die Wärme des Gemütes, die aus
seinem Innersten die metaphysische Blüte hervortreibt, die
Innigkeit des Mitlebens mit den Erscheinungen der Welt, die
uns die allgemeinsten, überempirischen Triebkräfte ahnen läſst,
von denen sie im Innersten zusammengehalten wird. Und
ebendieselbe Tiefe und Sammlung des Empfindens flöſst uns
oft eine heilige Scheu vor dem Individuellen der innern und
äuſseren Erscheinungen ein, die uns nun gerade hindert, in
transcendenten Begriffen und Bildern gleichsam ein Asyl für
die Not oder auch nur für die Unerklärlichkeit des augen-
blicklichen Erlebens zu suchen. Nicht woher dieses Schicksal
kommt und wohin es geht, macht das aus, worauf es uns
ankommt, sondern daſs es gerade dieses Eigenartige, in dieser
bestimmten Kombination mit nichts anderem Vergleichbare
ist. Während die höchsten metaphysischen Verallgemeine-
rungen dem verfeinerten Gefühlsleben entspringen, ist gerade
ein solches oft genug von dem Aufnehmen und Betrachten
der empirischen Welt der Einzelheiten zu sehr ergriffen, ist
zart genug organisiert, um alle die Schwankungen, Gegen-
sätze, Wunderlichkeiten in dem Verhältnis des Individuellen
zu bemerken, an denen der Stumpfsinnigere vorüberempfindet,
und begnügt sich mit dem bloſsen Anschauen und Anstaunen
dieses wechselvollen Spieles der Einzelheiten. Ich brauche es
kaum auszusprechen, daſs es die ästhetische Naturanlage ist,
die diese Differenzierung am vollendetsten darstellt; sie sucht
einerseits die Ergänzung des Irdisch-Unvollkommenen im Bau
einer Idealwelt, in der die reinen typischen Formen wohnen,
andererseits die Versenkung in das Allereigenste, Allerindividu-
ellste der Erscheinungen und ihrer Schicksale. Und im
Praktisch-Ethischen knüpft sich das Interesse des Herzens
am wärmsten gerade an die engsten und dann wieder an die
weitesten Kreise der Pflichterfüllung: einerseits an die engste
Familie, andererseits an das Vaterland, einerseits an die Indi-
vidualität, andererseits an das Weltbürgertum; die Verpflich-
tungen für die dazwischen liegenden Kreise, so enge und

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[68/0082] X 1. und gar von dem Kolorit des Menschentums ab. Erst die Erhebung zu dem, was auch über diesem steht, zu der allge- meinsten Naturgesetzlichkeit, schafft jene Gerechtigkeit der Weltanschauung, die jedes Ding in seinem Fürsichsein, seiner Individualität erkennt und anerkennt. Ich bin überzeugt: wenn alle Bewegungen der Welt auf die allbeherrschende Gesetzmäſsigkeit der Mechanik der Atome zurückgeführt wären, so würden wir schärfer als je vorher erkennen, worin sich jedes Wesen von jedem andern unterscheidet. Dieses erkenntnistheoretische und psychologische Verhält- nis erweitert sich, wenngleich dieselbe Entwicklungsform bei- behaltend, sobald es sich statt um Naturgesetze um metaphy- sische Allgemeinheiten handelt. Neben der Abstraktionskraft des Verstandes ist es hier die Wärme des Gemütes, die aus seinem Innersten die metaphysische Blüte hervortreibt, die Innigkeit des Mitlebens mit den Erscheinungen der Welt, die uns die allgemeinsten, überempirischen Triebkräfte ahnen läſst, von denen sie im Innersten zusammengehalten wird. Und ebendieselbe Tiefe und Sammlung des Empfindens flöſst uns oft eine heilige Scheu vor dem Individuellen der innern und äuſseren Erscheinungen ein, die uns nun gerade hindert, in transcendenten Begriffen und Bildern gleichsam ein Asyl für die Not oder auch nur für die Unerklärlichkeit des augen- blicklichen Erlebens zu suchen. Nicht woher dieses Schicksal kommt und wohin es geht, macht das aus, worauf es uns ankommt, sondern daſs es gerade dieses Eigenartige, in dieser bestimmten Kombination mit nichts anderem Vergleichbare ist. Während die höchsten metaphysischen Verallgemeine- rungen dem verfeinerten Gefühlsleben entspringen, ist gerade ein solches oft genug von dem Aufnehmen und Betrachten der empirischen Welt der Einzelheiten zu sehr ergriffen, ist zart genug organisiert, um alle die Schwankungen, Gegen- sätze, Wunderlichkeiten in dem Verhältnis des Individuellen zu bemerken, an denen der Stumpfsinnigere vorüberempfindet, und begnügt sich mit dem bloſsen Anschauen und Anstaunen dieses wechselvollen Spieles der Einzelheiten. Ich brauche es kaum auszusprechen, daſs es die ästhetische Naturanlage ist, die diese Differenzierung am vollendetsten darstellt; sie sucht einerseits die Ergänzung des Irdisch-Unvollkommenen im Bau einer Idealwelt, in der die reinen typischen Formen wohnen, andererseits die Versenkung in das Allereigenste, Allerindividu- ellste der Erscheinungen und ihrer Schicksale. Und im Praktisch-Ethischen knüpft sich das Interesse des Herzens am wärmsten gerade an die engsten und dann wieder an die weitesten Kreise der Pflichterfüllung: einerseits an die engste Familie, andererseits an das Vaterland, einerseits an die Indi- vidualität, andererseits an das Weltbürgertum; die Verpflich- tungen für die dazwischen liegenden Kreise, so enge und

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/82>, abgerufen am 25.11.2024.