Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. kleine Familien individualisiert, so war aus naheliegendenGründen der Zusammenschluss der letzteren zu einer nun er- weiterten Gruppe möglich und erfordert, und Plato hat diesen Prozess nur in der gleichen Richtung fortgesetzt, wenn er die Familie überhaupt aufhob, um die staatliche Gemeinschaft als solche auf ein Maximum von Zusammenschluss und Kraft zu bringen. Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobach- Wie sehr übrigens die Sprengung der kleineren Gruppe X 1. kleine Familien individualisiert, so war aus naheliegendenGründen der Zusammenschluſs der letzteren zu einer nun er- weiterten Gruppe möglich und erfordert, und Plato hat diesen Prozeſs nur in der gleichen Richtung fortgesetzt, wenn er die Familie überhaupt aufhob, um die staatliche Gemeinschaft als solche auf ein Maximum von Zusammenschluſs und Kraft zu bringen. Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobach- Wie sehr übrigens die Sprengung der kleineren Gruppe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0076" n="62"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/> kleine Familien individualisiert, so war aus naheliegenden<lb/> Gründen der Zusammenschluſs der letzteren zu einer nun er-<lb/> weiterten Gruppe möglich und erfordert, und Plato hat diesen<lb/> Prozeſs nur in der gleichen Richtung fortgesetzt, wenn er die<lb/> Familie überhaupt aufhob, um die staatliche Gemeinschaft als<lb/> solche auf ein Maximum von Zusammenschluſs und Kraft zu<lb/> bringen.</p><lb/> <p>Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobach-<lb/> tung gemacht worden, daſs die Neigung zur Familienbildung<lb/> in umgekehrtem Verhältnis zur Bildung gröſserer Gruppen<lb/> steht; das monogame und selbst polygame Verhältnis hat<lb/> etwas so Exklusives, die Sorge für die Nachkommenschaft<lb/> beansprucht die Eltern in so hohem Maſse, daſs die weiter-<lb/> gehende Socialisierung bei derartigen Tieren darunter leidet.<lb/> Darum sind die organisierten Gruppen unter den Vögeln<lb/> verhältnismäſsig selten, während z. B. die wilden Hunde, bei<lb/> denen völlige Promiskuität der Geschlechter und gegenseitige<lb/> Fremdheit nach dem Akt herrscht, meistens in eng zusammen-<lb/> haltenden Meuten leben, und bei den Säugetieren, bei denen<lb/> sowohl familienhafte wie sociale Triebe herrschen, bemerken<lb/> wir stets, daſs in Zeiten des Vorherrschens jener, also wäh-<lb/> rend der Paarungs- und Erzeugungszeit, die letzteren bedeu-<lb/> tend abnehmen. Auch ist die Vereinigung der Eltern und<lb/> der Jungen zu einer Familie eine um so engere, je geringer<lb/> die Zahl der Jungen ist; ich erwähne nur das bezeichnende<lb/> Beispiel, daſs innerhalb der Klasse der Fische diejenigen,<lb/> deren Nachkommenschaft völlig sich selbst überlassen ist, ihre<lb/> Eier zu ungezählten Millionen ablegen, während die brütenden<lb/> und bauenden Fische, bei denen sich also die Anfänge eines<lb/> familienhaften Zusammenhaltes finden, nur wenige Eier pro-<lb/> duzieren. Man hat in diesem Sinne behauptet, daſs die so-<lb/> cialen Verhältnisse unter den Tieren nicht von den ehelichen<lb/> oder elterlichen, sondern nur von den geschwisterlichen Be-<lb/> ziehungen ausgingen, da diese dem Individuum viel gröſsere<lb/> Freiheit lieſsen als jene und es deshalb geneigter machen,<lb/> sich eng an den gröſseren Kreis anzuschlieſsen, der sich ihm<lb/> eben zunächst in den Geschwistern bietet, sodaſs man das<lb/> Eingeschlossensein in eine tierische Familie als das gröſste<lb/> Hemmnis für den Anschluſs an eine gröſsere tierische Gesell-<lb/> schaft angesehen hat.</p><lb/> <p>Wie sehr übrigens die Sprengung der kleineren Gruppe<lb/> in Wechselwirkung steht mit Erweiterung der Socialisierung<lb/> einerseits, der Durchsetzung des Individuums andererseits, zeigt<lb/> auf dem Gebiete der Familienformen weiterhin etwa die<lb/> Sprengung der patriarchalischen Gruppierung im alten Rom.<lb/> Wenn die bürgerlichen Rechte und Pflichten in Krieg und<lb/> Frieden ebenso den Söhnen zukommen wie dem Vater, wenn<lb/> die ersteren persönliche Bedeutung, Einfluſs, Kriegsbeute<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [62/0076]
X 1.
kleine Familien individualisiert, so war aus naheliegenden
Gründen der Zusammenschluſs der letzteren zu einer nun er-
weiterten Gruppe möglich und erfordert, und Plato hat diesen
Prozeſs nur in der gleichen Richtung fortgesetzt, wenn er die
Familie überhaupt aufhob, um die staatliche Gemeinschaft als
solche auf ein Maximum von Zusammenschluſs und Kraft zu
bringen.
Es ist schon für die Tierwelt die ganz gleiche Beobach-
tung gemacht worden, daſs die Neigung zur Familienbildung
in umgekehrtem Verhältnis zur Bildung gröſserer Gruppen
steht; das monogame und selbst polygame Verhältnis hat
etwas so Exklusives, die Sorge für die Nachkommenschaft
beansprucht die Eltern in so hohem Maſse, daſs die weiter-
gehende Socialisierung bei derartigen Tieren darunter leidet.
Darum sind die organisierten Gruppen unter den Vögeln
verhältnismäſsig selten, während z. B. die wilden Hunde, bei
denen völlige Promiskuität der Geschlechter und gegenseitige
Fremdheit nach dem Akt herrscht, meistens in eng zusammen-
haltenden Meuten leben, und bei den Säugetieren, bei denen
sowohl familienhafte wie sociale Triebe herrschen, bemerken
wir stets, daſs in Zeiten des Vorherrschens jener, also wäh-
rend der Paarungs- und Erzeugungszeit, die letzteren bedeu-
tend abnehmen. Auch ist die Vereinigung der Eltern und
der Jungen zu einer Familie eine um so engere, je geringer
die Zahl der Jungen ist; ich erwähne nur das bezeichnende
Beispiel, daſs innerhalb der Klasse der Fische diejenigen,
deren Nachkommenschaft völlig sich selbst überlassen ist, ihre
Eier zu ungezählten Millionen ablegen, während die brütenden
und bauenden Fische, bei denen sich also die Anfänge eines
familienhaften Zusammenhaltes finden, nur wenige Eier pro-
duzieren. Man hat in diesem Sinne behauptet, daſs die so-
cialen Verhältnisse unter den Tieren nicht von den ehelichen
oder elterlichen, sondern nur von den geschwisterlichen Be-
ziehungen ausgingen, da diese dem Individuum viel gröſsere
Freiheit lieſsen als jene und es deshalb geneigter machen,
sich eng an den gröſseren Kreis anzuschlieſsen, der sich ihm
eben zunächst in den Geschwistern bietet, sodaſs man das
Eingeschlossensein in eine tierische Familie als das gröſste
Hemmnis für den Anschluſs an eine gröſsere tierische Gesell-
schaft angesehen hat.
Wie sehr übrigens die Sprengung der kleineren Gruppe
in Wechselwirkung steht mit Erweiterung der Socialisierung
einerseits, der Durchsetzung des Individuums andererseits, zeigt
auf dem Gebiete der Familienformen weiterhin etwa die
Sprengung der patriarchalischen Gruppierung im alten Rom.
Wenn die bürgerlichen Rechte und Pflichten in Krieg und
Frieden ebenso den Söhnen zukommen wie dem Vater, wenn
die ersteren persönliche Bedeutung, Einfluſs, Kriegsbeute
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