Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. diesen Zusammenhang. Engere und speciellere Pflichtenpflegen nicht unmittelbar an diese Autonomie zu appellieren; in demselben Masse, in dem unsere Pflichten inhaltlich weiteren Charakter tragen, hängen sie dagegen nur von persönlichem Pflichtgefühl ab. Untersuchen wir, wodurch sich denn das "aus blosser Sittlichkeit" zu Vollbringende von den äusser- lichen Geboten des Staates, der Kirche, der Sitte unter- scheidet, so finden wir immer, dass es ein allgemein Mensch- liches ist, -- mag das Allgemeine nun qualitativen Sinn wie bei den Pflichten der Familie gegenüber oder quantitativen wie bei der Pflicht der allgemeinen Menschenliebe haben. Die Specialzwecke haben eine Specialexekutive; das allgemein Menschliche liegt dem Einzelnen aus sich selbst auszuführen ob. Die autonome Sittlichkeit enthält das, was "an sich" gut ist; das ist aber nur das, was für den Menschen überhaupt, d. h. für die maximale Allgemeinheit, gut ist. Es lässt sich, wie ich glaube, behaupten, dass, um wieder Kantische Aus- drücke zu brauchen, zwischen dem Statutarischen und dem autonom Gebotenen ein gradueller Übergang, parallel dem zwischen dem kleineren und dem grösseren socialen Kreise, stattfindet. Man muss im Auge haben, dass dies ein kon- tinuierlicher Prozess ist, dass nicht etwa nur die Extreme des Individualismus und des Kosmopolitismus sich psychologisch und ethisch berühren, sondern dass schon auf den Wegen zu diesen von der socialen Gruppe aus die zurückgelegten Strecken beider Richtungen sich zu entsprechen pflegen. Und zwar gilt dies nicht nur für Einzel-, sondern auch Kol- lektivindividuen. Die Entwicklungsgeschichte der Familien- formen bietet uns dafür manchen Beleg, z. B. den folgenden. Als die Mutterfamilie (wie Bachofen und Lippert sie rekon- struiert haben) durch die Geltung der männlichen Macht ver- drängt war, war es zunächst nicht sowohl die Thatsache der Erzeugung durch den Vater, die die Familie als eine dar- stellte, als vielmehr die Herrschaft, die er über eine be- stimmte Anzahl von Menschen ausübte, unter denen sich nicht nur seine Leibesnachkommen, sondern Zugelaufene, Zu- gekaufte, Angeheiratete und deren ganze Familien u. s. w. befanden und unter einheitlichem Regimente zusammenge- halten wurden. Aus dieser ursprünglichen patriarchalischen Familie heraus differenziert sich erst später die jüngere der blossen Blutsverwandtschaft, in der Eltern und Kinder ein selbständiges Haus ausmachen. Diese war natürlich bei weitem kleiner und individuelleren Charakters als jene um- fassende patriarchalische; allein eben dadurch ermöglichte sich ihr Zusammenschluss zu einem nun viel grösseren staat- lichen Ganzen. Jene ältere Gruppe konnte allenfalls sich selbst genügen, sowohl zur Beschaffung des Lebensunterhaltes wie zur kriegerischen Aktion; hatte sie sich aber erst in X 1. diesen Zusammenhang. Engere und speciellere Pflichtenpflegen nicht unmittelbar an diese Autonomie zu appellieren; in demselben Maſse, in dem unsere Pflichten inhaltlich weiteren Charakter tragen, hängen sie dagegen nur von persönlichem Pflichtgefühl ab. Untersuchen wir, wodurch sich denn das „aus bloſser Sittlichkeit“ zu Vollbringende von den äuſser- lichen Geboten des Staates, der Kirche, der Sitte unter- scheidet, so finden wir immer, daſs es ein allgemein Mensch- liches ist, — mag das Allgemeine nun qualitativen Sinn wie bei den Pflichten der Familie gegenüber oder quantitativen wie bei der Pflicht der allgemeinen Menschenliebe haben. Die Specialzwecke haben eine Specialexekutive; das allgemein Menschliche liegt dem Einzelnen aus sich selbst auszuführen ob. Die autonome Sittlichkeit enthält das, was „an sich“ gut ist; das ist aber nur das, was für den Menschen überhaupt, d. h. für die maximale Allgemeinheit, gut ist. Es läſst sich, wie ich glaube, behaupten, daſs, um wieder Kantische Aus- drücke zu brauchen, zwischen dem Statutarischen und dem autonom Gebotenen ein gradueller Übergang, parallel dem zwischen dem kleineren und dem gröſseren socialen Kreise, stattfindet. Man muſs im Auge haben, daſs dies ein kon- tinuierlicher Prozeſs ist, daſs nicht etwa nur die Extreme des Individualismus und des Kosmopolitismus sich psychologisch und ethisch berühren, sondern daſs schon auf den Wegen zu diesen von der socialen Gruppe aus die zurückgelegten Strecken beider Richtungen sich zu entsprechen pflegen. Und zwar gilt dies nicht nur für Einzel-, sondern auch Kol- lektivindividuen. Die Entwicklungsgeschichte der Familien- formen bietet uns dafür manchen Beleg, z. B. den folgenden. Als die Mutterfamilie (wie Bachofen und Lippert sie rekon- struiert haben) durch die Geltung der männlichen Macht ver- drängt war, war es zunächst nicht sowohl die Thatsache der Erzeugung durch den Vater, die die Familie als eine dar- stellte, als vielmehr die Herrschaft, die er über eine be- stimmte Anzahl von Menschen ausübte, unter denen sich nicht nur seine Leibesnachkommen, sondern Zugelaufene, Zu- gekaufte, Angeheiratete und deren ganze Familien u. s. w. befanden und unter einheitlichem Regimente zusammenge- halten wurden. Aus dieser ursprünglichen patriarchalischen Familie heraus differenziert sich erst später die jüngere der bloſsen Blutsverwandtschaft, in der Eltern und Kinder ein selbständiges Haus ausmachen. Diese war natürlich bei weitem kleiner und individuelleren Charakters als jene um- fassende patriarchalische; allein eben dadurch ermöglichte sich ihr Zusammenschluſs zu einem nun viel gröſseren staat- lichen Ganzen. 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X 1.
diesen Zusammenhang. Engere und speciellere Pflichten
pflegen nicht unmittelbar an diese Autonomie zu appellieren;
in demselben Maſse, in dem unsere Pflichten inhaltlich weiteren
Charakter tragen, hängen sie dagegen nur von persönlichem
Pflichtgefühl ab. Untersuchen wir, wodurch sich denn das
„aus bloſser Sittlichkeit“ zu Vollbringende von den äuſser-
lichen Geboten des Staates, der Kirche, der Sitte unter-
scheidet, so finden wir immer, daſs es ein allgemein Mensch-
liches ist, — mag das Allgemeine nun qualitativen Sinn wie
bei den Pflichten der Familie gegenüber oder quantitativen
wie bei der Pflicht der allgemeinen Menschenliebe haben.
Die Specialzwecke haben eine Specialexekutive; das allgemein
Menschliche liegt dem Einzelnen aus sich selbst auszuführen
ob. Die autonome Sittlichkeit enthält das, was „an sich“ gut
ist; das ist aber nur das, was für den Menschen überhaupt,
d. h. für die maximale Allgemeinheit, gut ist. Es läſst sich,
wie ich glaube, behaupten, daſs, um wieder Kantische Aus-
drücke zu brauchen, zwischen dem Statutarischen und dem
autonom Gebotenen ein gradueller Übergang, parallel dem
zwischen dem kleineren und dem gröſseren socialen Kreise,
stattfindet. Man muſs im Auge haben, daſs dies ein kon-
tinuierlicher Prozeſs ist, daſs nicht etwa nur die Extreme des
Individualismus und des Kosmopolitismus sich psychologisch
und ethisch berühren, sondern daſs schon auf den Wegen zu
diesen von der socialen Gruppe aus die zurückgelegten
Strecken beider Richtungen sich zu entsprechen pflegen.
Und zwar gilt dies nicht nur für Einzel-, sondern auch Kol-
lektivindividuen. Die Entwicklungsgeschichte der Familien-
formen bietet uns dafür manchen Beleg, z. B. den folgenden.
Als die Mutterfamilie (wie Bachofen und Lippert sie rekon-
struiert haben) durch die Geltung der männlichen Macht ver-
drängt war, war es zunächst nicht sowohl die Thatsache der
Erzeugung durch den Vater, die die Familie als eine dar-
stellte, als vielmehr die Herrschaft, die er über eine be-
stimmte Anzahl von Menschen ausübte, unter denen sich
nicht nur seine Leibesnachkommen, sondern Zugelaufene, Zu-
gekaufte, Angeheiratete und deren ganze Familien u. s. w.
befanden und unter einheitlichem Regimente zusammenge-
halten wurden. Aus dieser ursprünglichen patriarchalischen
Familie heraus differenziert sich erst später die jüngere der
bloſsen Blutsverwandtschaft, in der Eltern und Kinder ein
selbständiges Haus ausmachen. Diese war natürlich bei
weitem kleiner und individuelleren Charakters als jene um-
fassende patriarchalische; allein eben dadurch ermöglichte
sich ihr Zusammenschluſs zu einem nun viel gröſseren staat-
lichen Ganzen. Jene ältere Gruppe konnte allenfalls sich
selbst genügen, sowohl zur Beschaffung des Lebensunterhaltes
wie zur kriegerischen Aktion; hatte sie sich aber erst in
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Zitationshilfe: | Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/75>, abgerufen am 28.07.2024. |