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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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empfindet, ohne dass sie sich in greifbarer Weise auf andere
Menschen bezöge. Die erweiterte und verdichtete Gattungs-
erfahrung hat diesen Pflichten volle sittliche Würde verliehen,
indem sie zugleich wegen der Weite des Kreises und der
Fülle der Interessen und Zwecke, die sich in ihnen zu-
sammenfanden, alle einzelne teleologische Beziehung derselben
hinter den Horizont des Bewusstseins rückte und dieses, das
doch einen Zweck, ein Objekt des Pflichtgefühls suchte, nur
an sich selbst zurückzuweisen wusste, sodass gerade die
Pflicht gegen die grösste Allgemeinheit uns als Pflicht gegen
das eigenste Ich erscheint.

Mit einer etwas anderen Wendung, die statt des Wohin
mehr das Woher der Sittlichkeit ins Auge fasst, stellt sich
dies so dar. Wir unterscheiden nach Kants Vorgang sittliche
Heteronomie, d. h. sittliches Handeln auf Grund äusseren
Gebotes, von sittlicher Autonomie, die von innen heraus und
nur um dem eigenen Pflichtgefühl zu genügen Gleiches thut.
Wie nun aber alle Pflicht ihrem Zwecke nach Pflicht gegen
Jemand und dieser Jemand ursprünglich eine äussere Person
ist, so ist sie auch ihrem Ursprung nach ein äusseres Gebot,
das erst durch einen langwierigen, durch die ganze Gattungs-
geschichte sich hindurchziehenden Prozess in das Gefühl eines
rein innerlichen Sollens übergeht. Nun gehörte aber offen-
bar die umfassende Fülle einzelner äusserer Impulse dazu, um
den Ursprung des einzelnen sittlichen Gebotes für das Be-
wusstsein zu verlöschen; denn überall bemerken wir, wie
einer einzelnen Erscheinung ihre Genesis psychologisch an-
klebt, solange sie nur aus dieser einen hervorgegangen ist,
dass sie aber psychologische Selbständigkeit erlangt, sobald
das Hervorgehen des Gleichen aus einer grossen Anzahl und
Mannichfaltigkeit von Vorbedingungen beobachtet wird. Die
psychologische Verbindung mit jeder einzelnen derselben löst
sich in dem Masse, als die Erscheinung anderweitige eingeht.
Tausendfach können wir es schon im individuellen Leben be-
obachten, wie ein gewisser Zwang nur oft genug, nur von
genügend vielen Seiten, ausgeübt zu werden braucht, um eine
Gewohnheit und schliesslich einen selbständigen, des Zwanges
gar nicht mehr brauchenden Trieb zu der betreffenden
Handlung zu erzeugen. Und das Gleiche wird vermöge der
Vererbung stattfinden. Je öfter und aus je mannichfaltigeren
Verhältnissen heraus innerhalb der Gattung die Nötigung zu
social nützlichen Handlungen erfolgt ist, desto eher werden
diese als an sich notwendig empfunden und aus einem auto-
nom erscheinenden Triebe des Individuums heraus ausgeführt
werden, -- sodass auch hier die grösste Fülle, der weiteste
Umkreis der Impulse sich unter Ausschaltung der dazwischen
liegenden Sphären als das Allerindividuellste darstellt. Ein
Blick auf den Inhalt der sittlichen Autonomie bestätigt

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empfindet, ohne daſs sie sich in greifbarer Weise auf andere
Menschen bezöge. Die erweiterte und verdichtete Gattungs-
erfahrung hat diesen Pflichten volle sittliche Würde verliehen,
indem sie zugleich wegen der Weite des Kreises und der
Fülle der Interessen und Zwecke, die sich in ihnen zu-
sammenfanden, alle einzelne teleologische Beziehung derselben
hinter den Horizont des Bewuſstseins rückte und dieses, das
doch einen Zweck, ein Objekt des Pflichtgefühls suchte, nur
an sich selbst zurückzuweisen wuſste, sodaſs gerade die
Pflicht gegen die gröſste Allgemeinheit uns als Pflicht gegen
das eigenste Ich erscheint.

Mit einer etwas anderen Wendung, die statt des Wohin
mehr das Woher der Sittlichkeit ins Auge faſst, stellt sich
dies so dar. Wir unterscheiden nach Kants Vorgang sittliche
Heteronomie, d. h. sittliches Handeln auf Grund äuſseren
Gebotes, von sittlicher Autonomie, die von innen heraus und
nur um dem eigenen Pflichtgefühl zu genügen Gleiches thut.
Wie nun aber alle Pflicht ihrem Zwecke nach Pflicht gegen
Jemand und dieser Jemand ursprünglich eine äuſsere Person
ist, so ist sie auch ihrem Ursprung nach ein äuſseres Gebot,
das erst durch einen langwierigen, durch die ganze Gattungs-
geschichte sich hindurchziehenden Prozeſs in das Gefühl eines
rein innerlichen Sollens übergeht. Nun gehörte aber offen-
bar die umfassende Fülle einzelner äuſserer Impulse dazu, um
den Ursprung des einzelnen sittlichen Gebotes für das Be-
wuſstsein zu verlöschen; denn überall bemerken wir, wie
einer einzelnen Erscheinung ihre Genesis psychologisch an-
klebt, solange sie nur aus dieser einen hervorgegangen ist,
daſs sie aber psychologische Selbständigkeit erlangt, sobald
das Hervorgehen des Gleichen aus einer groſsen Anzahl und
Mannichfaltigkeit von Vorbedingungen beobachtet wird. Die
psychologische Verbindung mit jeder einzelnen derselben löst
sich in dem Maſse, als die Erscheinung anderweitige eingeht.
Tausendfach können wir es schon im individuellen Leben be-
obachten, wie ein gewisser Zwang nur oft genug, nur von
genügend vielen Seiten, ausgeübt zu werden braucht, um eine
Gewohnheit und schlieſslich einen selbständigen, des Zwanges
gar nicht mehr brauchenden Trieb zu der betreffenden
Handlung zu erzeugen. Und das Gleiche wird vermöge der
Vererbung stattfinden. Je öfter und aus je mannichfaltigeren
Verhältnissen heraus innerhalb der Gattung die Nötigung zu
social nützlichen Handlungen erfolgt ist, desto eher werden
diese als an sich notwendig empfunden und aus einem auto-
nom erscheinenden Triebe des Individuums heraus ausgeführt
werden, — sodaſs auch hier die gröſste Fülle, der weiteste
Umkreis der Impulse sich unter Ausschaltung der dazwischen
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Blick auf den Inhalt der sittlichen Autonomie bestätigt

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[60/0074] X 1. empfindet, ohne daſs sie sich in greifbarer Weise auf andere Menschen bezöge. Die erweiterte und verdichtete Gattungs- erfahrung hat diesen Pflichten volle sittliche Würde verliehen, indem sie zugleich wegen der Weite des Kreises und der Fülle der Interessen und Zwecke, die sich in ihnen zu- sammenfanden, alle einzelne teleologische Beziehung derselben hinter den Horizont des Bewuſstseins rückte und dieses, das doch einen Zweck, ein Objekt des Pflichtgefühls suchte, nur an sich selbst zurückzuweisen wuſste, sodaſs gerade die Pflicht gegen die gröſste Allgemeinheit uns als Pflicht gegen das eigenste Ich erscheint. Mit einer etwas anderen Wendung, die statt des Wohin mehr das Woher der Sittlichkeit ins Auge faſst, stellt sich dies so dar. Wir unterscheiden nach Kants Vorgang sittliche Heteronomie, d. h. sittliches Handeln auf Grund äuſseren Gebotes, von sittlicher Autonomie, die von innen heraus und nur um dem eigenen Pflichtgefühl zu genügen Gleiches thut. Wie nun aber alle Pflicht ihrem Zwecke nach Pflicht gegen Jemand und dieser Jemand ursprünglich eine äuſsere Person ist, so ist sie auch ihrem Ursprung nach ein äuſseres Gebot, das erst durch einen langwierigen, durch die ganze Gattungs- geschichte sich hindurchziehenden Prozeſs in das Gefühl eines rein innerlichen Sollens übergeht. Nun gehörte aber offen- bar die umfassende Fülle einzelner äuſserer Impulse dazu, um den Ursprung des einzelnen sittlichen Gebotes für das Be- wuſstsein zu verlöschen; denn überall bemerken wir, wie einer einzelnen Erscheinung ihre Genesis psychologisch an- klebt, solange sie nur aus dieser einen hervorgegangen ist, daſs sie aber psychologische Selbständigkeit erlangt, sobald das Hervorgehen des Gleichen aus einer groſsen Anzahl und Mannichfaltigkeit von Vorbedingungen beobachtet wird. Die psychologische Verbindung mit jeder einzelnen derselben löst sich in dem Maſse, als die Erscheinung anderweitige eingeht. Tausendfach können wir es schon im individuellen Leben be- obachten, wie ein gewisser Zwang nur oft genug, nur von genügend vielen Seiten, ausgeübt zu werden braucht, um eine Gewohnheit und schlieſslich einen selbständigen, des Zwanges gar nicht mehr brauchenden Trieb zu der betreffenden Handlung zu erzeugen. Und das Gleiche wird vermöge der Vererbung stattfinden. Je öfter und aus je mannichfaltigeren Verhältnissen heraus innerhalb der Gattung die Nötigung zu social nützlichen Handlungen erfolgt ist, desto eher werden diese als an sich notwendig empfunden und aus einem auto- nom erscheinenden Triebe des Individuums heraus ausgeführt werden, — sodaſs auch hier die gröſste Fülle, der weiteste Umkreis der Impulse sich unter Ausschaltung der dazwischen liegenden Sphären als das Allerindividuellste darstellt. Ein Blick auf den Inhalt der sittlichen Autonomie bestätigt

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/74>, abgerufen am 25.11.2024.