Beobachtung: die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues -- reales und ideales -- zu den Entfernteren zu spinnen.
Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der Tier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und das- selbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, dass die Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer voneinander unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unter- abteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei unkultivierten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbil- dung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schär- feres Hervortreten der Individualität innerhalb der eigenen Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden, ein Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe hinausgehenden Gleichheit mit einer grösseren Allgemeinheit. Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn uns ver- sichert wird, dass die Haustierrassen unzivilisierter Völker viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen, als die bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen, der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Ab- teilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt. Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich; dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber: je enger die Synthese innerhalb des eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzie- rung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, dass die breiten ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener, dagegen von denen eines andern Volkes durch schärfere Cha- rakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten beider Völker statthat. Und in Bezug auf die Reflexe, die dieses Verhältnis in den beobachtenden Geist wirft, muss Gleiches stattfinden, und zwar auf Grund der wichtigen psycho- logischen Regel, dass differente, aber zu dem gleichen Genus gehörige und in einer gewissen Einheit zusammengefasste Eindrücke miteinander verschmelzen und sich dadurch gegen- seitig derart paralysieren, dass ein mittlerer Eindruck heraus- kommt; eine der extremen Qualitäten wird durch die andere ausgeglichen, und wie die äusserst verschiedenen Farben das farblose weisse Licht zusammensetzen, so bewirkt eine Mannich- faltigkeit sehr verschieden veranlagter und bethätigter Persön- lichkeiten, dass das Ganze, in dem die Vorstellung sie zu- sammenfasst, einen indifferenteren, der scharfkantigen Ein-
X 1.
Beobachtung: die Differenzierung und Individualisierung lockert das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues — reales und ideales — zu den Entfernteren zu spinnen.
Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der Tier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und das- selbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, daſs die Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer voneinander unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unter- abteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei unkultivierten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbil- dung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schär- feres Hervortreten der Individualität innerhalb der eigenen Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden, ein Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe hinausgehenden Gleichheit mit einer gröſseren Allgemeinheit. Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn uns ver- sichert wird, daſs die Haustierrassen unzivilisierter Völker viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen, als die bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen, der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Ab- teilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt. Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich; dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und feindlich gegenüber: je enger die Synthese innerhalb des eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzie- rung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, daſs die breiten ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener, dagegen von denen eines andern Volkes durch schärfere Cha- rakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten beider Völker statthat. Und in Bezug auf die Reflexe, die dieses Verhältnis in den beobachtenden Geist wirft, muſs Gleiches stattfinden, und zwar auf Grund der wichtigen psycho- logischen Regel, daſs differente, aber zu dem gleichen Genus gehörige und in einer gewissen Einheit zusammengefaſste Eindrücke miteinander verschmelzen und sich dadurch gegen- seitig derart paralysieren, daſs ein mittlerer Eindruck heraus- kommt; eine der extremen Qualitäten wird durch die andere ausgeglichen, und wie die äuſserst verschiedenen Farben das farblose weiſse Licht zusammensetzen, so bewirkt eine Mannich- faltigkeit sehr verschieden veranlagter und bethätigter Persön- lichkeiten, daſs das Ganze, in dem die Vorstellung sie zu- sammenfaſst, einen indifferenteren, der scharfkantigen Ein-
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X 1.
Beobachtung: die Differenzierung und Individualisierung lockert
das Band mit den Nächsten, um dafür ein neues — reales und
ideales — zu den Entfernteren zu spinnen.
Ein ganz entsprechendes Verhältnis findet sich in der
Tier- und Pflanzenwelt. Bei unsern Haustierrassen (und das-
selbe gilt für die Kulturpflanzen) ist zu bemerken, daſs die
Individuen derselben Unterabteilung sich schärfer voneinander
unterscheiden, als es mit den Individuen einer entsprechenden
im Naturzustande der Fall ist; dagegen stehen die Unter-
abteilungen einer Art als Ganze einander näher, als es bei
unkultivierten Species der Fall ist. Die wachsende Ausbil-
dung durch Kultivierung bewirkt also einerseits ein schär-
feres Hervortreten der Individualität innerhalb der eigenen
Abteilung, andererseits eine Annäherung an die fremden, ein
Hervortreten der über die ursprünglich homogene Gruppe
hinausgehenden Gleichheit mit einer gröſseren Allgemeinheit.
Und es stimmt damit vollkommen überein, wenn uns ver-
sichert wird, daſs die Haustierrassen unzivilisierter Völker
viel mehr den Charakter gesonderter Species tragen, als die
bei Kulturvölkern gehaltenen Varietäten; denn jene sind eben
noch nicht auf den Standpunkt der Ausbildung gekommen,
der bei längerer Zähmung die Verschiedenheiten der Ab-
teilungen vermindert, weil er die der Individuen vermehrt.
Und hierin ist die Entwicklung der Tiere der ihrer Herren
proportional: in roheren Zeiten sind die Individuen eines
Stammes so einheitlich und einander so gleich als möglich;
dagegen stehen die Stämme als Ganze einander fremd und
feindlich gegenüber: je enger die Synthese innerhalb des
eigenen Stammes, desto strenger die Antithese gegenüber dem
fremden; mit fortschreitender Kultur wächst die Differenzie-
rung unter den Individuen und steigt die Annäherung an den
fremden Stamm. Dem entspricht es durchaus, daſs die breiten
ungebildeten Massen eines Kulturvolkes unter sich homogener,
dagegen von denen eines andern Volkes durch schärfere Cha-
rakteristiken geschieden sind, als Beides unter den Gebildeten
beider Völker statthat. Und in Bezug auf die Reflexe, die
dieses Verhältnis in den beobachtenden Geist wirft, muſs
Gleiches stattfinden, und zwar auf Grund der wichtigen psycho-
logischen Regel, daſs differente, aber zu dem gleichen Genus
gehörige und in einer gewissen Einheit zusammengefaſste
Eindrücke miteinander verschmelzen und sich dadurch gegen-
seitig derart paralysieren, daſs ein mittlerer Eindruck heraus-
kommt; eine der extremen Qualitäten wird durch die andere
ausgeglichen, und wie die äuſserst verschiedenen Farben das
farblose weiſse Licht zusammensetzen, so bewirkt eine Mannich-
faltigkeit sehr verschieden veranlagter und bethätigter Persön-
lichkeiten, daſs das Ganze, in dem die Vorstellung sie zu-
sammenfaſst, einen indifferenteren, der scharfkantigen Ein-
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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/62>, abgerufen am 27.07.2024.
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