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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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bleiben wird, zum Schutze der Frau und zum Zusammenhalt
der Familie dienen. Diese mehrfach bestätigten, günstigen
Einflüsse auf die Sitten des Landes würden aber sofort um-
schlagen, sobald etwa durch Aufschliessung neuer Ernährungs-
quellen eine Vermehrung der Volkszahl möglich und erfordert
würde; gerade die Geschichte der Familienformen zeigt oft
genug, wie das einst Sittliche durch die blosse und oft blos
quantitative Änderung äusserer Verhältnisse zu einem sittlich
Verwerflichen wurde. Wenn nun ein Einzelner die jetzt
schuldvolle That beginge, also etwa in dem obigen Beispiel
ein Weib auch nach geänderten Verhältnissen noch polyan-
drischen Neigungen folgte und die Verantwortung dafür von
sich weg auf die Generationen schöbe, die durch Vererbung,
Rudimente ihrer Zustände und Ähnliches sie auf diesen Weg
getrieben, so würde, dies als richtig zugegeben, die Schuld
auf keinem Einzelnen haften bleiben, weil sie für ihre Ur-
heber eben noch nicht Schuld war. Freilich wird auch die
Gesellschaft, deren Modifikationen die Schuld schufen, nicht
im Sinne einer moralischen Verantwortung schuldig sein, weil
jene Modifikationen sich aus Gründen vollzogen, die mit dem
fraglichen moralischen Vorgang an sich gar nichts zu thun
haben und ihn nur zufällig zur Folge hatten. Wie gewisse
schädliche Massregeln, die für einen Teil der socialen Gesamt-
heit gelten, diesen Charakter manchmal dann verlieren, wenn
sie über das Ganze derselben verbreitet werden [so hat der
Socialismus betont, dass die erfahrungsmässigen Nachteile der
Regiewirtschaft, die man ihm entgegenhält, nur dadurch ent-
standen sind, dass die Regie bisher überall in eine in allem
übrigen individualistische Wirtschaftspolitik hineingesetzt
wurde, dagegen verschwinden würden, wenn sie einheitliches
ökonomisches Prinzip wäre] -- ganz ebenso wird umgekehrt
die Erweiterung des Wirkungskreises einer Handlungsweise
Vernunft in Unsinn, Wohlthat in Plage umwandeln können
und so ermöglichen, dass die Schuld, die der Einzelne von
sich abwälzen kann, dennoch auf keinen anderen Einzelnen
falle.

Indessen ist die rein quantitative Erweiterung der Gruppe
nur der deutlichste Fall der moralischen Entlastung der In-
dividuen; andere Modifikationen der Gruppe können zu dem
gleichen Resultat für den Einzelnen führen, indem sie die
Schuld, die der unmittelbare Thäter von sich wegschiebt,
auf keinem anderen Einzelnen brauchen haften zu lassen. Wie
die chemische Mischung zweier Stoffe einen dritten zustande-
bringen kann, dessen Eigenschaften völlig andere sind als die
seiner Elemente, so kann eine Schuld dadurch entstehen, dass
eine bestimmte Naturanlage mit bestimmten socialen Verhält-
nissen zusammentrifft, während keiner dieser Faktoren an sich
Unsittliches enthält. Von dieser Möglichkeit aus lässt sich

X 1.
bleiben wird, zum Schutze der Frau und zum Zusammenhalt
der Familie dienen. Diese mehrfach bestätigten, günstigen
Einflüsse auf die Sitten des Landes würden aber sofort um-
schlagen, sobald etwa durch Aufschlieſsung neuer Ernährungs-
quellen eine Vermehrung der Volkszahl möglich und erfordert
würde; gerade die Geschichte der Familienformen zeigt oft
genug, wie das einst Sittliche durch die bloſse und oft blos
quantitative Änderung äuſserer Verhältnisse zu einem sittlich
Verwerflichen wurde. Wenn nun ein Einzelner die jetzt
schuldvolle That beginge, also etwa in dem obigen Beispiel
ein Weib auch nach geänderten Verhältnissen noch polyan-
drischen Neigungen folgte und die Verantwortung dafür von
sich weg auf die Generationen schöbe, die durch Vererbung,
Rudimente ihrer Zustände und Ähnliches sie auf diesen Weg
getrieben, so würde, dies als richtig zugegeben, die Schuld
auf keinem Einzelnen haften bleiben, weil sie für ihre Ur-
heber eben noch nicht Schuld war. Freilich wird auch die
Gesellschaft, deren Modifikationen die Schuld schufen, nicht
im Sinne einer moralischen Verantwortung schuldig sein, weil
jene Modifikationen sich aus Gründen vollzogen, die mit dem
fraglichen moralischen Vorgang an sich gar nichts zu thun
haben und ihn nur zufällig zur Folge hatten. Wie gewisse
schädliche Maſsregeln, die für einen Teil der socialen Gesamt-
heit gelten, diesen Charakter manchmal dann verlieren, wenn
sie über das Ganze derselben verbreitet werden [so hat der
Socialismus betont, daſs die erfahrungsmäſsigen Nachteile der
Regiewirtschaft, die man ihm entgegenhält, nur dadurch ent-
standen sind, daſs die Regie bisher überall in eine in allem
übrigen individualistische Wirtschaftspolitik hineingesetzt
wurde, dagegen verschwinden würden, wenn sie einheitliches
ökonomisches Prinzip wäre] — ganz ebenso wird umgekehrt
die Erweiterung des Wirkungskreises einer Handlungsweise
Vernunft in Unsinn, Wohlthat in Plage umwandeln können
und so ermöglichen, daſs die Schuld, die der Einzelne von
sich abwälzen kann, dennoch auf keinen anderen Einzelnen
falle.

Indessen ist die rein quantitative Erweiterung der Gruppe
nur der deutlichste Fall der moralischen Entlastung der In-
dividuen; andere Modifikationen der Gruppe können zu dem
gleichen Resultat für den Einzelnen führen, indem sie die
Schuld, die der unmittelbare Thäter von sich wegschiebt,
auf keinem anderen Einzelnen brauchen haften zu lassen. Wie
die chemische Mischung zweier Stoffe einen dritten zustande-
bringen kann, dessen Eigenschaften völlig andere sind als die
seiner Elemente, so kann eine Schuld dadurch entstehen, daſs
eine bestimmte Naturanlage mit bestimmten socialen Verhält-
nissen zusammentrifft, während keiner dieser Faktoren an sich
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[39/0053] X 1. bleiben wird, zum Schutze der Frau und zum Zusammenhalt der Familie dienen. Diese mehrfach bestätigten, günstigen Einflüsse auf die Sitten des Landes würden aber sofort um- schlagen, sobald etwa durch Aufschlieſsung neuer Ernährungs- quellen eine Vermehrung der Volkszahl möglich und erfordert würde; gerade die Geschichte der Familienformen zeigt oft genug, wie das einst Sittliche durch die bloſse und oft blos quantitative Änderung äuſserer Verhältnisse zu einem sittlich Verwerflichen wurde. Wenn nun ein Einzelner die jetzt schuldvolle That beginge, also etwa in dem obigen Beispiel ein Weib auch nach geänderten Verhältnissen noch polyan- drischen Neigungen folgte und die Verantwortung dafür von sich weg auf die Generationen schöbe, die durch Vererbung, Rudimente ihrer Zustände und Ähnliches sie auf diesen Weg getrieben, so würde, dies als richtig zugegeben, die Schuld auf keinem Einzelnen haften bleiben, weil sie für ihre Ur- heber eben noch nicht Schuld war. Freilich wird auch die Gesellschaft, deren Modifikationen die Schuld schufen, nicht im Sinne einer moralischen Verantwortung schuldig sein, weil jene Modifikationen sich aus Gründen vollzogen, die mit dem fraglichen moralischen Vorgang an sich gar nichts zu thun haben und ihn nur zufällig zur Folge hatten. Wie gewisse schädliche Maſsregeln, die für einen Teil der socialen Gesamt- heit gelten, diesen Charakter manchmal dann verlieren, wenn sie über das Ganze derselben verbreitet werden [so hat der Socialismus betont, daſs die erfahrungsmäſsigen Nachteile der Regiewirtschaft, die man ihm entgegenhält, nur dadurch ent- standen sind, daſs die Regie bisher überall in eine in allem übrigen individualistische Wirtschaftspolitik hineingesetzt wurde, dagegen verschwinden würden, wenn sie einheitliches ökonomisches Prinzip wäre] — ganz ebenso wird umgekehrt die Erweiterung des Wirkungskreises einer Handlungsweise Vernunft in Unsinn, Wohlthat in Plage umwandeln können und so ermöglichen, daſs die Schuld, die der Einzelne von sich abwälzen kann, dennoch auf keinen anderen Einzelnen falle. Indessen ist die rein quantitative Erweiterung der Gruppe nur der deutlichste Fall der moralischen Entlastung der In- dividuen; andere Modifikationen der Gruppe können zu dem gleichen Resultat für den Einzelnen führen, indem sie die Schuld, die der unmittelbare Thäter von sich wegschiebt, auf keinem anderen Einzelnen brauchen haften zu lassen. Wie die chemische Mischung zweier Stoffe einen dritten zustande- bringen kann, dessen Eigenschaften völlig andere sind als die seiner Elemente, so kann eine Schuld dadurch entstehen, daſs eine bestimmte Naturanlage mit bestimmten socialen Verhält- nissen zusammentrifft, während keiner dieser Faktoren an sich Unsittliches enthält. Von dieser Möglichkeit aus läſst sich

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/53>, abgerufen am 27.11.2024.