Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. grössere Milde, die fortgeschrittenere Zeiten dem Verbrechergegenüber zeigen, ein Zeichen davon, dass man die einzelne That von dem Ganzen der Persönlichkeit differenziert, und dass die einzelne Unsittlichkeit nicht mehr, wie es einem ver- schwommeneren Vorstellen natürlich ist, als durchgehende Verderbtheit der Seele erscheint -- ganz analog der Dif- ferenzierung, die das sociale Ganze von der Verantwortung für die That eines Mitgliedes entlastet. Auch die Besserung bestrafter Personen, die eines der Hauptziele höherer Kultur ist, wird eine Aussicht auf Erfolg wesentlich auf die gleiche psychologische Voraussetzung gründen können, dass auch die Verbrecherseele differenziert genug ist, um neben den verdor- benen Trieben noch gesunde einzuschliessen; denn eine tiefer blickende Psychologie darf nicht von einer direkten Beseiti- gung jener, sondern nur von Stärkung und Hebung dieser eine dauernde Besserung des Sünders hoffen. Man kann übrigens die Milderung der Strafen, die Verjährung, wie die Versuche, den gesellschaftlichen Ruin dessen, der sich einmal ein Vergehen zu Schulden kommen liess, zu hindern, ausser auf die Differenzierung des Nebeneinander seiner Seelenteile auf eine solche des Nacheinander seiner seelischen Entwick- lung bauen, indem man spätere Epochen nicht mehr für das büssen lassen will, was früheren zur Last fällt. Auf dem Standpunkte der höchsten Kultur zeigt sich in- X 1. gröſsere Milde, die fortgeschrittenere Zeiten dem Verbrechergegenüber zeigen, ein Zeichen davon, daſs man die einzelne That von dem Ganzen der Persönlichkeit differenziert, und daſs die einzelne Unsittlichkeit nicht mehr, wie es einem ver- schwommeneren Vorstellen natürlich ist, als durchgehende Verderbtheit der Seele erscheint — ganz analog der Dif- ferenzierung, die das sociale Ganze von der Verantwortung für die That eines Mitgliedes entlastet. Auch die Besserung bestrafter Personen, die eines der Hauptziele höherer Kultur ist, wird eine Aussicht auf Erfolg wesentlich auf die gleiche psychologische Voraussetzung gründen können, daſs auch die Verbrecherseele differenziert genug ist, um neben den verdor- benen Trieben noch gesunde einzuschlieſsen; denn eine tiefer blickende Psychologie darf nicht von einer direkten Beseiti- gung jener, sondern nur von Stärkung und Hebung dieser eine dauernde Besserung des Sünders hoffen. Man kann übrigens die Milderung der Strafen, die Verjährung, wie die Versuche, den gesellschaftlichen Ruin dessen, der sich einmal ein Vergehen zu Schulden kommen lieſs, zu hindern, auſser auf die Differenzierung des Nebeneinander seiner Seelenteile auf eine solche des Nacheinander seiner seelischen Entwick- lung bauen, indem man spätere Epochen nicht mehr für das büſsen lassen will, was früheren zur Last fällt. 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X 1.
gröſsere Milde, die fortgeschrittenere Zeiten dem Verbrecher
gegenüber zeigen, ein Zeichen davon, daſs man die einzelne
That von dem Ganzen der Persönlichkeit differenziert, und
daſs die einzelne Unsittlichkeit nicht mehr, wie es einem ver-
schwommeneren Vorstellen natürlich ist, als durchgehende
Verderbtheit der Seele erscheint — ganz analog der Dif-
ferenzierung, die das sociale Ganze von der Verantwortung
für die That eines Mitgliedes entlastet. Auch die Besserung
bestrafter Personen, die eines der Hauptziele höherer Kultur
ist, wird eine Aussicht auf Erfolg wesentlich auf die gleiche
psychologische Voraussetzung gründen können, daſs auch die
Verbrecherseele differenziert genug ist, um neben den verdor-
benen Trieben noch gesunde einzuschlieſsen; denn eine tiefer
blickende Psychologie darf nicht von einer direkten Beseiti-
gung jener, sondern nur von Stärkung und Hebung dieser
eine dauernde Besserung des Sünders hoffen. Man kann
übrigens die Milderung der Strafen, die Verjährung, wie die
Versuche, den gesellschaftlichen Ruin dessen, der sich einmal
ein Vergehen zu Schulden kommen lieſs, zu hindern, auſser
auf die Differenzierung des Nebeneinander seiner Seelenteile
auf eine solche des Nacheinander seiner seelischen Entwick-
lung bauen, indem man spätere Epochen nicht mehr für das
büſsen lassen will, was früheren zur Last fällt.
Auf dem Standpunkte der höchsten Kultur zeigt sich in-
des eine eigentümliche Form der Rückkehr zu der früheren
Anschauung. Gerade in der letzten Zeit ist wieder die Nei-
gung hervorgetreten, die Gesellschaft für die Schuld des In-
dividuums verantwortlich zu machen. Der äuſseren Stellung,
in die sie den Einzelnen hineinsetzt, den entweder atrophi-
schen oder hypertrophischen Lebensbedingungen, die sie ihm
bietet, den übermächtigen Eindrücken und Einflüssen, denen
er seitens ihrer ausgesetzt ist, — all diesem, aber nicht einer
„Freiheit“ der Individualität, schreibt man jetzt gern die
Verantwortung für die Missethat des Individuums zu. Die
transcendentale Erkenntnis von der ausnahmslosen Herrschaft
natürlicher Kausalität, die die Schuld im Sinne des liberum
arbitrium ausschlieſst, verengt sich zum Glauben an die
durchgängige Bestimmtheit durch sociale Einflüsse. In dem
Maſse, in dem die alte individualistische Weltanschauung
durch die historisch sociologische ersetzt wird, die in dem
Individuum nur einen Schnittpunkt socialer Fäden sieht,
muſs an die Stelle der Individualschuld wieder die Kollektiv-
schuld treten. Ist der Einzelne seinen angeborenen Anlagen
nach das Produkt der vorangegangenen Generationen, der
Ausbildung derselben nach das Produkt der gegenwärtigen,
trägt er den Inhalt seiner Persönlichkeit von der Gesellschaft
zu Lehen, so können wir ihn nicht mehr für Thaten verant-
wortlich machen, für die er, nicht anders als das Werk-
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