Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.II. Über Kollektivverantwortlichkeit. Rohere Epochen zeigen durchgängig die Tendenz, die II. Über Kollektivverantwortlichkeit. Rohere Epochen zeigen durchgängig die Tendenz, die <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0035" n="[21]"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">II.<lb/> Über Kollektivverantwortlichkeit.</hi> </head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <p>Rohere Epochen zeigen durchgängig die Tendenz, die<lb/> schädigende That des Einzelnen als strafbares Verschulden<lb/> seines socialen Kreises, der ganzen Familie, des Stammes<lb/> u. s. w. anzusehen. Innerhalb einer politisch einheitlichen<lb/> Gruppe geschieht, wo eine Centralgewalt die Missethat heim-<lb/> sucht, dies oft bis ins dritte und vierte Glied, und Strafen<lb/> jeder Art treffen Familienglieder, die an dem Vergehen völlig<lb/> unschuldig sind; in noch stärkerem Maſse findet dasselbe bei<lb/> Privatrache statt, die häufig auf eine Schädigung des Ein-<lb/> zelnen durch einen Einzelnen hin in einen Krieg der ganzen<lb/> Familien untereinander ausartet, und zwar sowohl ihrer ganzen<lb/> Breite nach, wie auf die Folge ganzer Generationen hin. Bei<lb/> politisch getrennten Gruppen fordert die Gesamtheit der einen<lb/> von der Gesamtheit der andern Genugthuung für die Be-<lb/> schädigung, die ihr oder einem ihrer Mitglieder von einem<lb/> Mitgliede der andern widerfahren ist. Ein Differenzierungs-<lb/> mangel kann hierin nach zwei Seiten liegen: zunächst ob-<lb/> jectiv, insofern die Verschmelzung zwischen Individuum und<lb/> Gesamtheit thatsächlich eine so enge sein kann, daſs die Thaten<lb/> des Ersteren mit Recht nicht als individuelle im strengen Sinne,<lb/> sondern aus einer gewissen Solidarität jedes mit jedem hervor-<lb/> gegangen gelten können; zweitens subjektiv vermöge der Un-<lb/> fähigkeit des Beurteilenden, das schuldige Individuum von der<lb/> Gruppe zu sondern, mit der es sich in allen übrigen Be-<lb/> ziehungen, aber doch gerade nicht in der der vorliegenden<lb/> Schuld in Verbindung befindet. — Da öfters indes eine und<lb/> dieselbe Ursache nach beiden Seiten hin wirkt, so scheint es<lb/> zweckmäſsig, daſs die folgende Begründung dieser Möglich-<lb/> keiten sie nicht in scharfer Sonderung behandelt.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [[21]/0035]
II.
Über Kollektivverantwortlichkeit.
Rohere Epochen zeigen durchgängig die Tendenz, die
schädigende That des Einzelnen als strafbares Verschulden
seines socialen Kreises, der ganzen Familie, des Stammes
u. s. w. anzusehen. Innerhalb einer politisch einheitlichen
Gruppe geschieht, wo eine Centralgewalt die Missethat heim-
sucht, dies oft bis ins dritte und vierte Glied, und Strafen
jeder Art treffen Familienglieder, die an dem Vergehen völlig
unschuldig sind; in noch stärkerem Maſse findet dasselbe bei
Privatrache statt, die häufig auf eine Schädigung des Ein-
zelnen durch einen Einzelnen hin in einen Krieg der ganzen
Familien untereinander ausartet, und zwar sowohl ihrer ganzen
Breite nach, wie auf die Folge ganzer Generationen hin. Bei
politisch getrennten Gruppen fordert die Gesamtheit der einen
von der Gesamtheit der andern Genugthuung für die Be-
schädigung, die ihr oder einem ihrer Mitglieder von einem
Mitgliede der andern widerfahren ist. Ein Differenzierungs-
mangel kann hierin nach zwei Seiten liegen: zunächst ob-
jectiv, insofern die Verschmelzung zwischen Individuum und
Gesamtheit thatsächlich eine so enge sein kann, daſs die Thaten
des Ersteren mit Recht nicht als individuelle im strengen Sinne,
sondern aus einer gewissen Solidarität jedes mit jedem hervor-
gegangen gelten können; zweitens subjektiv vermöge der Un-
fähigkeit des Beurteilenden, das schuldige Individuum von der
Gruppe zu sondern, mit der es sich in allen übrigen Be-
ziehungen, aber doch gerade nicht in der der vorliegenden
Schuld in Verbindung befindet. — Da öfters indes eine und
dieselbe Ursache nach beiden Seiten hin wirkt, so scheint es
zweckmäſsig, daſs die folgende Begründung dieser Möglich-
keiten sie nicht in scharfer Sonderung behandelt.
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