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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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erreicht wird; sie stiften unter diesen zwar einseitige Verbin-
dungen, deren Einseitigkeit aber durch die entgegengesetzte
paralysirt wird; sie stellen wenigstens eine erste Organisierung
der Massen dar, wenn sie diese auch noch nicht soweit be-
herrschen, um zu den Beziehungen der letzten einfachen Teile
vorzudringen, in die die komplexen Erscheinungen aufzulösen
das letzte Ziel der Wissenschaft ist.

In einer ähnlichen Verfassung nun befindet sich die Socio-
logie. Weil ihr Gegenstand eine solche Fülle von Bewegungen
in sich schliesst, wird je nach den Beobachtungen und Ten-
denzen des Forschers bald die eine, bald die andere als typisch
und innerlich notwendig erscheinen; das Verhältnis des In-
dividuums zur Allgemeinheit, die Ursachen und die Formen
der Gruppenbildung, die Gegensätze und Übergänge der
Klassen, die Entwickelung des Verhältnisses zwischen Füh-
renden und Beherrschten und unzählige andere Angelegen-
heiten unserer Wissenschaft zeigen einen solchen Reichtum
von verschiedenartigen geschichtlichen Verwirklichungen, dass
jede einheitliche Normierung, jede Feststellung einer durch-
gehenden Form dieser Verhältnisse einseitig sein muss und
die entgegengesetztesten Behauptungen darüber sich durch
vielfache Beispiele belegen lassen. Der tiefere Grund liegt
auch hier in der Kompliziertheit der Objekte, die der Auf-
lösung in einfache Teile und deren primitive Kräfte und Ver-
hältnisse völlig widerstehen. Jeder gesellschaftliche Vorgang
oder Zustand, den wir uns zum Objekt machen, ist die Er-
scheinung, bzw. Wirkung unzählig vieler tiefer gelegenen
Teilvorgänge. Da nun die gleiche Wirkung von sehr ver-
schiedenen Ursachen ausgehen kann, so ist es möglich, dass
die genau gleiche Erscheinung durch ganz verschiedene Kom-
plexe von Kräften hervorgebracht werde, die, nachdem sie
an einem Punkte zu der gleichen Wirkung zusammengegangen
sind, in ihrer weiteren, darüber hinausgehenden Entwickelung
wieder völlig verschiedene Formen annehmen. Aus der
Gleichheit zweier Zustände oder Perioden in grossen Ent-
wickelungsreihen lässt sich deshalb noch nicht schliessen, dass
die Folge dieses Abschnitts in der einen der des gleich er-
scheinenden in der andern gleich sein werde; im weiteren
Verlaufe kommt dann die Verschiedenheit der Ausgangs-
punkte wieder zur Geltung, die nur einer zufälligen und
vorübergehenden Gleichheit Platz gemacht hatte. Eine Häufig-
keit dieses Verhaltens wird natürlich da am wahrscheinlich-
sten sein, wo die Fülle, die Komplikation und die Erkenntnis-
schwierigkeit der einzelnen Faktoren und Teilursachen die
grösste ist. Dies aber trifft, wie gesagt, bei den gesellschaft-
lichen Erscheinungen im höchsten Masse zu; die primären
Teile und Kräfte, die diese zustande bringen, sind so unüber-
sehbar mannichfaltig, dass hundertfach gleiche Erscheinungen

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erreicht wird; sie stiften unter diesen zwar einseitige Verbin-
dungen, deren Einseitigkeit aber durch die entgegengesetzte
paralysirt wird; sie stellen wenigstens eine erste Organisierung
der Massen dar, wenn sie diese auch noch nicht soweit be-
herrschen, um zu den Beziehungen der letzten einfachen Teile
vorzudringen, in die die komplexen Erscheinungen aufzulösen
das letzte Ziel der Wissenschaft ist.

In einer ähnlichen Verfassung nun befindet sich die Socio-
logie. Weil ihr Gegenstand eine solche Fülle von Bewegungen
in sich schlieſst, wird je nach den Beobachtungen und Ten-
denzen des Forschers bald die eine, bald die andere als typisch
und innerlich notwendig erscheinen; das Verhältnis des In-
dividuums zur Allgemeinheit, die Ursachen und die Formen
der Gruppenbildung, die Gegensätze und Übergänge der
Klassen, die Entwickelung des Verhältnisses zwischen Füh-
renden und Beherrschten und unzählige andere Angelegen-
heiten unserer Wissenschaft zeigen einen solchen Reichtum
von verschiedenartigen geschichtlichen Verwirklichungen, daſs
jede einheitliche Normierung, jede Feststellung einer durch-
gehenden Form dieser Verhältnisse einseitig sein muſs und
die entgegengesetztesten Behauptungen darüber sich durch
vielfache Beispiele belegen lassen. Der tiefere Grund liegt
auch hier in der Kompliziertheit der Objekte, die der Auf-
lösung in einfache Teile und deren primitive Kräfte und Ver-
hältnisse völlig widerstehen. Jeder gesellschaftliche Vorgang
oder Zustand, den wir uns zum Objekt machen, ist die Er-
scheinung, bzw. Wirkung unzählig vieler tiefer gelegenen
Teilvorgänge. Da nun die gleiche Wirkung von sehr ver-
schiedenen Ursachen ausgehen kann, so ist es möglich, daſs
die genau gleiche Erscheinung durch ganz verschiedene Kom-
plexe von Kräften hervorgebracht werde, die, nachdem sie
an einem Punkte zu der gleichen Wirkung zusammengegangen
sind, in ihrer weiteren, darüber hinausgehenden Entwickelung
wieder völlig verschiedene Formen annehmen. Aus der
Gleichheit zweier Zustände oder Perioden in groſsen Ent-
wickelungsreihen läſst sich deshalb noch nicht schlieſsen, daſs
die Folge dieses Abschnitts in der einen der des gleich er-
scheinenden in der andern gleich sein werde; im weiteren
Verlaufe kommt dann die Verschiedenheit der Ausgangs-
punkte wieder zur Geltung, die nur einer zufälligen und
vorübergehenden Gleichheit Platz gemacht hatte. Eine Häufig-
keit dieses Verhaltens wird natürlich da am wahrscheinlich-
sten sein, wo die Fülle, die Komplikation und die Erkenntnis-
schwierigkeit der einzelnen Faktoren und Teilursachen die
gröſste ist. Dies aber trifft, wie gesagt, bei den gesellschaft-
lichen Erscheinungen im höchsten Maſse zu; die primären
Teile und Kräfte, die diese zustande bringen, sind so unüber-
sehbar mannichfaltig, daſs hundertfach gleiche Erscheinungen

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[8/0022] X 1. erreicht wird; sie stiften unter diesen zwar einseitige Verbin- dungen, deren Einseitigkeit aber durch die entgegengesetzte paralysirt wird; sie stellen wenigstens eine erste Organisierung der Massen dar, wenn sie diese auch noch nicht soweit be- herrschen, um zu den Beziehungen der letzten einfachen Teile vorzudringen, in die die komplexen Erscheinungen aufzulösen das letzte Ziel der Wissenschaft ist. In einer ähnlichen Verfassung nun befindet sich die Socio- logie. Weil ihr Gegenstand eine solche Fülle von Bewegungen in sich schlieſst, wird je nach den Beobachtungen und Ten- denzen des Forschers bald die eine, bald die andere als typisch und innerlich notwendig erscheinen; das Verhältnis des In- dividuums zur Allgemeinheit, die Ursachen und die Formen der Gruppenbildung, die Gegensätze und Übergänge der Klassen, die Entwickelung des Verhältnisses zwischen Füh- renden und Beherrschten und unzählige andere Angelegen- heiten unserer Wissenschaft zeigen einen solchen Reichtum von verschiedenartigen geschichtlichen Verwirklichungen, daſs jede einheitliche Normierung, jede Feststellung einer durch- gehenden Form dieser Verhältnisse einseitig sein muſs und die entgegengesetztesten Behauptungen darüber sich durch vielfache Beispiele belegen lassen. Der tiefere Grund liegt auch hier in der Kompliziertheit der Objekte, die der Auf- lösung in einfache Teile und deren primitive Kräfte und Ver- hältnisse völlig widerstehen. Jeder gesellschaftliche Vorgang oder Zustand, den wir uns zum Objekt machen, ist die Er- scheinung, bzw. Wirkung unzählig vieler tiefer gelegenen Teilvorgänge. Da nun die gleiche Wirkung von sehr ver- schiedenen Ursachen ausgehen kann, so ist es möglich, daſs die genau gleiche Erscheinung durch ganz verschiedene Kom- plexe von Kräften hervorgebracht werde, die, nachdem sie an einem Punkte zu der gleichen Wirkung zusammengegangen sind, in ihrer weiteren, darüber hinausgehenden Entwickelung wieder völlig verschiedene Formen annehmen. Aus der Gleichheit zweier Zustände oder Perioden in groſsen Ent- wickelungsreihen läſst sich deshalb noch nicht schlieſsen, daſs die Folge dieses Abschnitts in der einen der des gleich er- scheinenden in der andern gleich sein werde; im weiteren Verlaufe kommt dann die Verschiedenheit der Ausgangs- punkte wieder zur Geltung, die nur einer zufälligen und vorübergehenden Gleichheit Platz gemacht hatte. Eine Häufig- keit dieses Verhaltens wird natürlich da am wahrscheinlich- sten sein, wo die Fülle, die Komplikation und die Erkenntnis- schwierigkeit der einzelnen Faktoren und Teilursachen die gröſste ist. Dies aber trifft, wie gesagt, bei den gesellschaft- lichen Erscheinungen im höchsten Maſse zu; die primären Teile und Kräfte, die diese zustande bringen, sind so unüber- sehbar mannichfaltig, daſs hundertfach gleiche Erscheinungen

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/22>, abgerufen am 23.11.2024.