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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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logisch gleichmässig plausibel machen. Und so deduzieren
wir mit gleicher Wahrscheinlichkeit, dass die Entfernung ge-
wisse Empfindungen zweier Menschen für einander steigert,
wie dass sie sie schwächt; dass der Optimismus, aber auch
gerade der Pessimismus die Vorbedingung eines kräftigen
ethischen Handelns ist; dass die Liebe zu einem engeren
Kreise von Menschen das Herz nun auch für die Interessen
weiterer Kreise empfänglich macht, wie dass sie dasselbe gegen
die letzteren abschliesst und verbaut. Und ebenso wie der
Inhalt lässt sich auch die Richtung der psychologischen Ver-
knüpfung umkehren, ohne an Richtigkeit einzubüssen. Dass
Unsittlichkeit die Ursache inneren Unglücks ist, wird uns mit
ebenso starken Gründen von dem einen Psychologen be-
wiesen, wie von dem andern, dass das Unglück die Ursache
der Demoralisierung ist; dass der Glaube an gewisse religiöse
Dogmen die Ursache geistiger Unselbständigkeit und Ver-
dummung wird, ist mit nicht schlechteren Gründen und Bei-
spielen bewiesen, wie das umgekehrte, dass die geistige Un-
zulänglichkeit der Menschen eigentlich die Ursache sei, die
sie zum Glauben an überirdische Dinge greifen liess. Kurz,
weder in metaphysischen noch in psychologischen Dingen
findet sich die Eindeutigkeit einer wissenschaftlichen Regel,
sondern stets die Möglichkeit, jeder Beobachtung oder Wahr-
scheinlichkeit die entgegengesetzte entgegenzustellen.

Die Ursache dieser auffallenden Zweideutigkeit ist offenbar
die, dass die Objekte, über deren Beziehungen ausgesagt wird,
schon an und für sich nicht eindeutig sind. Das Ganze der
Welt, von dem metaphysische Behauptungen sprechen, enthält
eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, dass
fast jede beliebige Behauptung über dasselbe eine Anzahl
von Stützen findet, die oft genug soviel psychologisches Ge-
wicht besitzen, um entgegenstehende Erfahrungen und Deu-
tungen aus dem Bewusstsein zu verdrängen, die nun ihrer-
seits in andern, gerade für sie disponierten Geistern den Ge-
samtcharakter des Weltbildes bestimmen. Das Falsche liegt
nur darin, dass entweder eine partielle Wahrheit zu einer
absolut gültigen verallgemeinert, oder aus der Beobachtung
gewisser Thatsachen ein Schluss auf das Ganze gezogen wird,
der unmöglich wäre, wenn die Beobachtung noch weiter aus-
gedehnt wäre; also sozusagen weniger Irrtümer im Inhalt
des Urteils als in dessen Betonung, mehr in der Quantität
als in der Qualität. Nahe dabei fliesst die Quelle für die
Unzulänglichkeit der psychologischen Urteile. Die Allgemein-
begriffe psychischer Funktionen, zwischen denen sie Verbin-
dungen stiften, sind so sehr allgemein und schliessen eine
solche Fülle von Nüancen ein, dass je nach der Betonung
der einen oder der andern ganz verschiedene Folgen aus dem
der Bezeichnung nach identischen Affect hervorgehen können;

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logisch gleichmäſsig plausibel machen. Und so deduzieren
wir mit gleicher Wahrscheinlichkeit, daſs die Entfernung ge-
wisse Empfindungen zweier Menschen für einander steigert,
wie daſs sie sie schwächt; daſs der Optimismus, aber auch
gerade der Pessimismus die Vorbedingung eines kräftigen
ethischen Handelns ist; daſs die Liebe zu einem engeren
Kreise von Menschen das Herz nun auch für die Interessen
weiterer Kreise empfänglich macht, wie daſs sie dasselbe gegen
die letzteren abschlieſst und verbaut. Und ebenso wie der
Inhalt läſst sich auch die Richtung der psychologischen Ver-
knüpfung umkehren, ohne an Richtigkeit einzubüſsen. Daſs
Unsittlichkeit die Ursache inneren Unglücks ist, wird uns mit
ebenso starken Gründen von dem einen Psychologen be-
wiesen, wie von dem andern, daſs das Unglück die Ursache
der Demoralisierung ist; daſs der Glaube an gewisse religiöse
Dogmen die Ursache geistiger Unselbständigkeit und Ver-
dummung wird, ist mit nicht schlechteren Gründen und Bei-
spielen bewiesen, wie das umgekehrte, daſs die geistige Un-
zulänglichkeit der Menschen eigentlich die Ursache sei, die
sie zum Glauben an überirdische Dinge greifen lieſs. Kurz,
weder in metaphysischen noch in psychologischen Dingen
findet sich die Eindeutigkeit einer wissenschaftlichen Regel,
sondern stets die Möglichkeit, jeder Beobachtung oder Wahr-
scheinlichkeit die entgegengesetzte entgegenzustellen.

Die Ursache dieser auffallenden Zweideutigkeit ist offenbar
die, daſs die Objekte, über deren Beziehungen ausgesagt wird,
schon an und für sich nicht eindeutig sind. Das Ganze der
Welt, von dem metaphysische Behauptungen sprechen, enthält
eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, daſs
fast jede beliebige Behauptung über dasselbe eine Anzahl
von Stützen findet, die oft genug soviel psychologisches Ge-
wicht besitzen, um entgegenstehende Erfahrungen und Deu-
tungen aus dem Bewuſstsein zu verdrängen, die nun ihrer-
seits in andern, gerade für sie disponierten Geistern den Ge-
samtcharakter des Weltbildes bestimmen. Das Falsche liegt
nur darin, daſs entweder eine partielle Wahrheit zu einer
absolut gültigen verallgemeinert, oder aus der Beobachtung
gewisser Thatsachen ein Schluſs auf das Ganze gezogen wird,
der unmöglich wäre, wenn die Beobachtung noch weiter aus-
gedehnt wäre; also sozusagen weniger Irrtümer im Inhalt
des Urteils als in dessen Betonung, mehr in der Quantität
als in der Qualität. Nahe dabei flieſst die Quelle für die
Unzulänglichkeit der psychologischen Urteile. Die Allgemein-
begriffe psychischer Funktionen, zwischen denen sie Verbin-
dungen stiften, sind so sehr allgemein und schlieſsen eine
solche Fülle von Nüancen ein, daſs je nach der Betonung
der einen oder der andern ganz verschiedene Folgen aus dem
der Bezeichnung nach identischen Affect hervorgehen können;

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[5/0019] X 1. logisch gleichmäſsig plausibel machen. Und so deduzieren wir mit gleicher Wahrscheinlichkeit, daſs die Entfernung ge- wisse Empfindungen zweier Menschen für einander steigert, wie daſs sie sie schwächt; daſs der Optimismus, aber auch gerade der Pessimismus die Vorbedingung eines kräftigen ethischen Handelns ist; daſs die Liebe zu einem engeren Kreise von Menschen das Herz nun auch für die Interessen weiterer Kreise empfänglich macht, wie daſs sie dasselbe gegen die letzteren abschlieſst und verbaut. Und ebenso wie der Inhalt läſst sich auch die Richtung der psychologischen Ver- knüpfung umkehren, ohne an Richtigkeit einzubüſsen. Daſs Unsittlichkeit die Ursache inneren Unglücks ist, wird uns mit ebenso starken Gründen von dem einen Psychologen be- wiesen, wie von dem andern, daſs das Unglück die Ursache der Demoralisierung ist; daſs der Glaube an gewisse religiöse Dogmen die Ursache geistiger Unselbständigkeit und Ver- dummung wird, ist mit nicht schlechteren Gründen und Bei- spielen bewiesen, wie das umgekehrte, daſs die geistige Un- zulänglichkeit der Menschen eigentlich die Ursache sei, die sie zum Glauben an überirdische Dinge greifen lieſs. Kurz, weder in metaphysischen noch in psychologischen Dingen findet sich die Eindeutigkeit einer wissenschaftlichen Regel, sondern stets die Möglichkeit, jeder Beobachtung oder Wahr- scheinlichkeit die entgegengesetzte entgegenzustellen. Die Ursache dieser auffallenden Zweideutigkeit ist offenbar die, daſs die Objekte, über deren Beziehungen ausgesagt wird, schon an und für sich nicht eindeutig sind. Das Ganze der Welt, von dem metaphysische Behauptungen sprechen, enthält eine solche Fülle und Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, daſs fast jede beliebige Behauptung über dasselbe eine Anzahl von Stützen findet, die oft genug soviel psychologisches Ge- wicht besitzen, um entgegenstehende Erfahrungen und Deu- tungen aus dem Bewuſstsein zu verdrängen, die nun ihrer- seits in andern, gerade für sie disponierten Geistern den Ge- samtcharakter des Weltbildes bestimmen. Das Falsche liegt nur darin, daſs entweder eine partielle Wahrheit zu einer absolut gültigen verallgemeinert, oder aus der Beobachtung gewisser Thatsachen ein Schluſs auf das Ganze gezogen wird, der unmöglich wäre, wenn die Beobachtung noch weiter aus- gedehnt wäre; also sozusagen weniger Irrtümer im Inhalt des Urteils als in dessen Betonung, mehr in der Quantität als in der Qualität. Nahe dabei flieſst die Quelle für die Unzulänglichkeit der psychologischen Urteile. Die Allgemein- begriffe psychischer Funktionen, zwischen denen sie Verbin- dungen stiften, sind so sehr allgemein und schlieſsen eine solche Fülle von Nüancen ein, daſs je nach der Betonung der einen oder der andern ganz verschiedene Folgen aus dem der Bezeichnung nach identischen Affect hervorgehen können;

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/19>, abgerufen am 24.11.2024.