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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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als ein stabiles ansieht, und zwar sowohl für die Wirklich-
keit, als für das Ideal. Das sogenannte eherne Lohngesetz
ist ein solcher Versuch, die aktuelle Differenzierung der Ar-
beit als in einem stetigen Verhältnis zu der latenten Differen-
zierung des Kapitals stehend zu erkennen. Ebenso die Carey-
sche Begründung der Interessenharmonie zwischen Kapital
und Arbeit: da die steigende Zivilisation das für ein Produkt
nötige Arbeitsquantum stetig vermindert, so werde der Ar-
beiter für das gleiche Produkt relativ immer besser bezahlt;
da aber zugleich die Konsumtion ausserordentlich wächst, so
steigt auch der Gewinn des Kapitalisten, der zwar an jedem
einzelnen Produkt relativ weniger Anteil hat, durch die Masse
der Produktion aber, absolut genommen, doch noch einen
grösseren Vorteil hat, als bei geringerer Produktion. Hier
soll also wenigstens die Entwicklung der aktuellen Differen-
zierung, wie sie in der zivilisierten Arbeit liegt, zu der Ent-
wicklung ihrer Aufspeicherung im Kapital ein dauerndes Ver-
hältnis aufweisen, das nicht von der Zufälligkeit historischer
Umstände, sondern von der logisch sachlichen Beziehung
dieser Faktoren selbst bestimmt wird. Andererseits versuchen
socialistische Utopieen ein derartiges Verhältnis wenigstens
für die Zukunft zu konstruieren und gehen von der naiven
Voraussetzung aus, es liesse sich überhaupt eines auffinden,
das durchweg verwendbar wäre und -- wenn wir das socia-
listische Ideal einmal nach der Seite unsrer jetzigen Betrach-
tung hin deuten können -- das ein Maximum von socialer
Kraftersparnis darstellte. Ich denke hier etwa an die Vor-
schläge Louis Blancs, der die Kräftevergeudung durch das
Arbeiten der Individuen gegeneinander dadurch vermeiden
will, dass die in den Kapitalgewinn einmündende und in ihm
latent werdende Arbeit nicht individualistisch verwandt, son-
dern zu einem Drittel völlig gleich aufgeteilt, zu zwei Dritteln
aber zur Verbesserung und Vermehrung der Arbeitsmittel etc.
bestimmt werden soll.

Ich glaube, dass alle Versuche, das Verhältnis zwischen
Kapital und Arbeit theoretisch oder praktisch zu fixieren,
das Schicksal erleiden werden, das den Operationen mit den
"Seelenvermögen" in der älteren Psychologie zu Teil wurde.
Auch hier wollte man von bestimmten Verhältnissen zwischen
Verstand und Vernunft, zwischen Willen und Gefühl, zwi-
schen Gedächtnis und Einbildungskraft sprechen, bis man
einsah, dass dies nur ganz rohe sprachliche Zusammen-
fassungen sehr komplizierter Seelenvorgänge sind, und dass
man zu einem Verständnis derselben nur kommt, indem man,
von jenen Hypostasierungen absehend, auf die einfachsten
psychischen Prozesse zurückgeht und die Regeln ermittelt,
nach denen die einzelnen Vorstellungen sich wechselwirkend

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als ein stabiles ansieht, und zwar sowohl für die Wirklich-
keit, als für das Ideal. Das sogenannte eherne Lohngesetz
ist ein solcher Versuch, die aktuelle Differenzierung der Ar-
beit als in einem stetigen Verhältnis zu der latenten Differen-
zierung des Kapitals stehend zu erkennen. Ebenso die Carey-
sche Begründung der Interessenharmonie zwischen Kapital
und Arbeit: da die steigende Zivilisation das für ein Produkt
nötige Arbeitsquantum stetig vermindert, so werde der Ar-
beiter für das gleiche Produkt relativ immer besser bezahlt;
da aber zugleich die Konsumtion auſserordentlich wächst, so
steigt auch der Gewinn des Kapitalisten, der zwar an jedem
einzelnen Produkt relativ weniger Anteil hat, durch die Masse
der Produktion aber, absolut genommen, doch noch einen
gröſseren Vorteil hat, als bei geringerer Produktion. Hier
soll also wenigstens die Entwicklung der aktuellen Differen-
zierung, wie sie in der zivilisierten Arbeit liegt, zu der Ent-
wicklung ihrer Aufspeicherung im Kapital ein dauerndes Ver-
hältnis aufweisen, das nicht von der Zufälligkeit historischer
Umstände, sondern von der logisch sachlichen Beziehung
dieser Faktoren selbst bestimmt wird. Andererseits versuchen
socialistische Utopieen ein derartiges Verhältnis wenigstens
für die Zukunft zu konstruieren und gehen von der naiven
Voraussetzung aus, es lieſse sich überhaupt eines auffinden,
das durchweg verwendbar wäre und — wenn wir das socia-
listische Ideal einmal nach der Seite unsrer jetzigen Betrach-
tung hin deuten können — das ein Maximum von socialer
Kraftersparnis darstellte. Ich denke hier etwa an die Vor-
schläge Louis Blancs, der die Kräftevergeudung durch das
Arbeiten der Individuen gegeneinander dadurch vermeiden
will, daſs die in den Kapitalgewinn einmündende und in ihm
latent werdende Arbeit nicht individualistisch verwandt, son-
dern zu einem Drittel völlig gleich aufgeteilt, zu zwei Dritteln
aber zur Verbesserung und Vermehrung der Arbeitsmittel etc.
bestimmt werden soll.

Ich glaube, daſs alle Versuche, das Verhältnis zwischen
Kapital und Arbeit theoretisch oder praktisch zu fixieren,
das Schicksal erleiden werden, das den Operationen mit den
„Seelenvermögen“ in der älteren Psychologie zu Teil wurde.
Auch hier wollte man von bestimmten Verhältnissen zwischen
Verstand und Vernunft, zwischen Willen und Gefühl, zwi-
schen Gedächtnis und Einbildungskraft sprechen, bis man
einsah, daſs dies nur ganz rohe sprachliche Zusammen-
fassungen sehr komplizierter Seelenvorgänge sind, und daſs
man zu einem Verständnis derselben nur kommt, indem man,
von jenen Hypostasierungen absehend, auf die einfachsten
psychischen Prozesse zurückgeht und die Regeln ermittelt,
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[146/0160] X 1. als ein stabiles ansieht, und zwar sowohl für die Wirklich- keit, als für das Ideal. Das sogenannte eherne Lohngesetz ist ein solcher Versuch, die aktuelle Differenzierung der Ar- beit als in einem stetigen Verhältnis zu der latenten Differen- zierung des Kapitals stehend zu erkennen. Ebenso die Carey- sche Begründung der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit: da die steigende Zivilisation das für ein Produkt nötige Arbeitsquantum stetig vermindert, so werde der Ar- beiter für das gleiche Produkt relativ immer besser bezahlt; da aber zugleich die Konsumtion auſserordentlich wächst, so steigt auch der Gewinn des Kapitalisten, der zwar an jedem einzelnen Produkt relativ weniger Anteil hat, durch die Masse der Produktion aber, absolut genommen, doch noch einen gröſseren Vorteil hat, als bei geringerer Produktion. Hier soll also wenigstens die Entwicklung der aktuellen Differen- zierung, wie sie in der zivilisierten Arbeit liegt, zu der Ent- wicklung ihrer Aufspeicherung im Kapital ein dauerndes Ver- hältnis aufweisen, das nicht von der Zufälligkeit historischer Umstände, sondern von der logisch sachlichen Beziehung dieser Faktoren selbst bestimmt wird. Andererseits versuchen socialistische Utopieen ein derartiges Verhältnis wenigstens für die Zukunft zu konstruieren und gehen von der naiven Voraussetzung aus, es lieſse sich überhaupt eines auffinden, das durchweg verwendbar wäre und — wenn wir das socia- listische Ideal einmal nach der Seite unsrer jetzigen Betrach- tung hin deuten können — das ein Maximum von socialer Kraftersparnis darstellte. Ich denke hier etwa an die Vor- schläge Louis Blancs, der die Kräftevergeudung durch das Arbeiten der Individuen gegeneinander dadurch vermeiden will, daſs die in den Kapitalgewinn einmündende und in ihm latent werdende Arbeit nicht individualistisch verwandt, son- dern zu einem Drittel völlig gleich aufgeteilt, zu zwei Dritteln aber zur Verbesserung und Vermehrung der Arbeitsmittel etc. bestimmt werden soll. Ich glaube, daſs alle Versuche, das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit theoretisch oder praktisch zu fixieren, das Schicksal erleiden werden, das den Operationen mit den „Seelenvermögen“ in der älteren Psychologie zu Teil wurde. Auch hier wollte man von bestimmten Verhältnissen zwischen Verstand und Vernunft, zwischen Willen und Gefühl, zwi- schen Gedächtnis und Einbildungskraft sprechen, bis man einsah, daſs dies nur ganz rohe sprachliche Zusammen- fassungen sehr komplizierter Seelenvorgänge sind, und daſs man zu einem Verständnis derselben nur kommt, indem man, von jenen Hypostasierungen absehend, auf die einfachsten psychischen Prozesse zurückgeht und die Regeln ermittelt, nach denen die einzelnen Vorstellungen sich wechselwirkend

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/160>, abgerufen am 24.11.2024.