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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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eingeschlagenen Entwicklungsrichtung -- alles dies wird von
starken Trieben unserer Natur selbst um den Preis der Ein-
seitigkeit verlangt und damit jene primäre Kraftersparnis er-
zielt, die in der einfachen Ablehnung aller Vielheit liegt;
dem gegenüber steht der Trieb nach mehrfacher Bewährung,
allseitiger Entfaltung, und bewirkt die sekundäre Kraft-
ersparnis, die in der Geschmeidigkeit vielfältiger Kräfte, in
der Leichtigkeit des Übergangs von einer Anforderung des
Lebens an die andere liegt. Man kann auch hierin die Wir-
kung der grossen Prinzipien sehen, die alles organische Leben
bestimmen: der Vererbung und der Anpassung; die stabile
Einheitlichkeit des Lebens, die Gleichheit des Charakters der
einen Lebensperiode mit der andern entspricht am Individuum
dem, was an der Gattung als Erfolg der Vererbung auftritt,
während Mannichfaltigkeit im Thun und Leiden als Anpassung
erscheint, als Modifikation des angeborenen Charakters je nach
den Umständen, die in unberechenbarer Fülle und Entgegen-
gesetztheit an uns herantreten. Und nun sehen wir den Kon-
flikt dieser, auf das ganze Leben erstreckten Tendenzen sich
innerhalb des Differenzierungsstrebens selbst wiederholen, wie
überhaupt im Organischen das Verhältnis der Teile eines
Ganzen zu einander sich oft im gegenseitigen Verhältnis der
Unterabteilungen eines Teiles wiederholt. Wo die Neigung
für Differenzierung vorhanden ist, da macht sich doch der
Gegensatz geltend, dass jede gegebene kürzere Epoche einer-
seits mit möglichst scharf ausgebildetem, nach einer Rich-
tung hin differenziertem Inhalt erfüllt und nach irgendwelcher
Zeit von einer andern, von anderm Inhalt in gleicher Form
erfüllten, abgelöst werde -- also Differenzierung im Nach-
einander; und andererseits beansprucht nun jeder gegebene
Zeitteil einen in sich, d. h. im Nebeneinander, möglichst diffe-
renzierten, mannichfachen Inhalt. Auf unzähligen Gebieten
wird dieser Zwiespalt von der äussersten Wichtigkeit. Z. B.
die Auswahl des Lehrstoffes für die Jugend hat stets einen
Kompromiss zwischen den beiden Tendenzen zu schliessen:
dass zunächst ein einheitlicher Teil des zu bewältigenden In-
halts vorgenommen und einseitig, aber entsprechend fest ein-
geprägt werde, um dann einem andern, ebenso behandelten
Platz zu machen, und dass andererseits doch auch ein Neben-
einander der Gegenstände stattfinden muss, das zwar nicht so
schnell Gründlichkeit erzielt, aber durch die Abwechselung
den Geist frisch und anpassungsfähig erhält. Die Tempera-
mente, die Charaktere, die gesamten Verschiedenheiten des
menschlichen Wesens, von den äusserlichen des Berufs bis zu
denen der metaphysischen Weltanschauung, zeichnen sich
dadurch voneinander ab, dass die einen die Vielheit mehr
im Nacheinander, die andern mehr im Nebeneinander ent-

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eingeschlagenen Entwicklungsrichtung — alles dies wird von
starken Trieben unserer Natur selbst um den Preis der Ein-
seitigkeit verlangt und damit jene primäre Kraftersparnis er-
zielt, die in der einfachen Ablehnung aller Vielheit liegt;
dem gegenüber steht der Trieb nach mehrfacher Bewährung,
allseitiger Entfaltung, und bewirkt die sekundäre Kraft-
ersparnis, die in der Geschmeidigkeit vielfältiger Kräfte, in
der Leichtigkeit des Übergangs von einer Anforderung des
Lebens an die andere liegt. Man kann auch hierin die Wir-
kung der groſsen Prinzipien sehen, die alles organische Leben
bestimmen: der Vererbung und der Anpassung; die stabile
Einheitlichkeit des Lebens, die Gleichheit des Charakters der
einen Lebensperiode mit der andern entspricht am Individuum
dem, was an der Gattung als Erfolg der Vererbung auftritt,
während Mannichfaltigkeit im Thun und Leiden als Anpassung
erscheint, als Modifikation des angeborenen Charakters je nach
den Umständen, die in unberechenbarer Fülle und Entgegen-
gesetztheit an uns herantreten. Und nun sehen wir den Kon-
flikt dieser, auf das ganze Leben erstreckten Tendenzen sich
innerhalb des Differenzierungsstrebens selbst wiederholen, wie
überhaupt im Organischen das Verhältnis der Teile eines
Ganzen zu einander sich oft im gegenseitigen Verhältnis der
Unterabteilungen eines Teiles wiederholt. Wo die Neigung
für Differenzierung vorhanden ist, da macht sich doch der
Gegensatz geltend, daſs jede gegebene kürzere Epoche einer-
seits mit möglichst scharf ausgebildetem, nach einer Rich-
tung hin differenziertem Inhalt erfüllt und nach irgendwelcher
Zeit von einer andern, von anderm Inhalt in gleicher Form
erfüllten, abgelöst werde — also Differenzierung im Nach-
einander; und andererseits beansprucht nun jeder gegebene
Zeitteil einen in sich, d. h. im Nebeneinander, möglichst diffe-
renzierten, mannichfachen Inhalt. Auf unzähligen Gebieten
wird dieser Zwiespalt von der äuſsersten Wichtigkeit. Z. B.
die Auswahl des Lehrstoffes für die Jugend hat stets einen
Kompromiſs zwischen den beiden Tendenzen zu schlieſsen:
daſs zunächst ein einheitlicher Teil des zu bewältigenden In-
halts vorgenommen und einseitig, aber entsprechend fest ein-
geprägt werde, um dann einem andern, ebenso behandelten
Platz zu machen, und daſs andererseits doch auch ein Neben-
einander der Gegenstände stattfinden muſs, das zwar nicht so
schnell Gründlichkeit erzielt, aber durch die Abwechselung
den Geist frisch und anpassungsfähig erhält. Die Tempera-
mente, die Charaktere, die gesamten Verschiedenheiten des
menschlichen Wesens, von den äuſserlichen des Berufs bis zu
denen der metaphysischen Weltanschauung, zeichnen sich
dadurch voneinander ab, daſs die einen die Vielheit mehr
im Nacheinander, die andern mehr im Nebeneinander ent-

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[141/0155] X 1. eingeschlagenen Entwicklungsrichtung — alles dies wird von starken Trieben unserer Natur selbst um den Preis der Ein- seitigkeit verlangt und damit jene primäre Kraftersparnis er- zielt, die in der einfachen Ablehnung aller Vielheit liegt; dem gegenüber steht der Trieb nach mehrfacher Bewährung, allseitiger Entfaltung, und bewirkt die sekundäre Kraft- ersparnis, die in der Geschmeidigkeit vielfältiger Kräfte, in der Leichtigkeit des Übergangs von einer Anforderung des Lebens an die andere liegt. Man kann auch hierin die Wir- kung der groſsen Prinzipien sehen, die alles organische Leben bestimmen: der Vererbung und der Anpassung; die stabile Einheitlichkeit des Lebens, die Gleichheit des Charakters der einen Lebensperiode mit der andern entspricht am Individuum dem, was an der Gattung als Erfolg der Vererbung auftritt, während Mannichfaltigkeit im Thun und Leiden als Anpassung erscheint, als Modifikation des angeborenen Charakters je nach den Umständen, die in unberechenbarer Fülle und Entgegen- gesetztheit an uns herantreten. Und nun sehen wir den Kon- flikt dieser, auf das ganze Leben erstreckten Tendenzen sich innerhalb des Differenzierungsstrebens selbst wiederholen, wie überhaupt im Organischen das Verhältnis der Teile eines Ganzen zu einander sich oft im gegenseitigen Verhältnis der Unterabteilungen eines Teiles wiederholt. Wo die Neigung für Differenzierung vorhanden ist, da macht sich doch der Gegensatz geltend, daſs jede gegebene kürzere Epoche einer- seits mit möglichst scharf ausgebildetem, nach einer Rich- tung hin differenziertem Inhalt erfüllt und nach irgendwelcher Zeit von einer andern, von anderm Inhalt in gleicher Form erfüllten, abgelöst werde — also Differenzierung im Nach- einander; und andererseits beansprucht nun jeder gegebene Zeitteil einen in sich, d. h. im Nebeneinander, möglichst diffe- renzierten, mannichfachen Inhalt. Auf unzähligen Gebieten wird dieser Zwiespalt von der äuſsersten Wichtigkeit. Z. B. die Auswahl des Lehrstoffes für die Jugend hat stets einen Kompromiſs zwischen den beiden Tendenzen zu schlieſsen: daſs zunächst ein einheitlicher Teil des zu bewältigenden In- halts vorgenommen und einseitig, aber entsprechend fest ein- geprägt werde, um dann einem andern, ebenso behandelten Platz zu machen, und daſs andererseits doch auch ein Neben- einander der Gegenstände stattfinden muſs, das zwar nicht so schnell Gründlichkeit erzielt, aber durch die Abwechselung den Geist frisch und anpassungsfähig erhält. Die Tempera- mente, die Charaktere, die gesamten Verschiedenheiten des menschlichen Wesens, von den äuſserlichen des Berufs bis zu denen der metaphysischen Weltanschauung, zeichnen sich dadurch voneinander ab, daſs die einen die Vielheit mehr im Nacheinander, die andern mehr im Nebeneinander ent-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/155>, abgerufen am 24.11.2024.