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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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lichkeit gegeben, die vorangegangene Differenzierung wieder
aufzuheben -- was übrigens der in unserm dritten Kapitel
gewonnenen Formel entspricht, nach der der Weg der Ent-
wicklung von der kleineren Gruppe einerseits zur grösseren,
andererseits zugleich zur Individualisierung führt. Eine Kraft-
ersparnis liegt hier insofern vor, als das religiöse Zentral-
gebilde von solchen Fragen und Angelegenheiten entlastet
wird, die der Einzelne am besten für sich allein ordnet, und
entsprechend der Einzelne nicht mehr durch die Autorität
seiner Konfession genötigt ist, mit dem, was ihm richtig
erscheint, noch eine Anzahl Glaubensartikel ausser den
Hauptsachen in Kauf zu nehmen, die ihm persönlich über-
flüssig sind.

Wenn auch keine genaue Parallelität hiermit, so doch
eine teilweise Verwandtschaft der Form zeigt die Entwick-
lung des Kriegerstandes auf. Ursprünglich ist jedes männliche
Mitglied des Stammes auch Krieger; mit jeglichem Besitz und
dem Wunsch nach Mehrbesitz ist es unmittelbar verbunden,
dass jener verteidigt, dieser erkämpft werde; die Führung
der Waffen ist die selbstverständliche Konsequenz davon, dass
jemand etwas zu gewinnen oder zu verlieren hat. Dass eine
so allgemeine, natürliche, mit jeglichem Interesse verknüpfte
Bethätigung von dem Einzelnen als solchem gelöst und in
einem besonderen Gebilde verselbständigt werde, bedeutet
schon eine hohe Differenzierung und eine besonders grosse
Kraftersparnis. Denn je mehr eigentliche Kulturbeschäfti-
gungen sich ausbildeten, desto störender musste die Notwen-
digkeit, jeden Augenblick zu den Waffen zu greifen, desto
kraftsparender die Einrichtung wirken, dass lieber ein Teil
der Gruppe sich ganz der kriegerischen Beschäftigung wid-
mete, damit die Übrigen möglichst ungestört ihre Kräfte für
die anderen nötigen Lebensinteressen entfalten könnten; es
war eine Arbeitsteilung, welche ihren Gipfel in den Söldnern
erreichte, die von jedem ausserkriegerischen Interesse soweit
losgelöst waren, dass sie sich jeder beliebigen Kriegspartei zu
Diensten stellten. Die erste Rückgängigmachung dieser Dif-
ferenzierung fand da statt, wo die Heere ihren internationalen
oder unpolitischen Charakter verloren und wenigstens dem
Lande entstammten, für das sie fochten, so dass der Krieger,
wenn er auch im übrigen nur dies und nichts anderes
war, doch wenigstens zugleich Patriot sein konnte. Wo dies
aber der Fall ist, da wird doch die zugrunde liegende,
in den Kampf mitgebrachte Empfindung, der Mut, die
Spannkraft, die kriegerische Tüchtigkeit überhaupt auf eine
Höhe gehoben, die der vaterlandslose Söldner nur künstlich,
durch bewusste Willensanstrengung und mit entsprechend
grösserem Kraftverbrauch erreichen konnte. Überall bedeutet
es eine erhebliche Kraftersparnis, wenn eine erforderte Be-

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lichkeit gegeben, die vorangegangene Differenzierung wieder
aufzuheben — was übrigens der in unserm dritten Kapitel
gewonnenen Formel entspricht, nach der der Weg der Ent-
wicklung von der kleineren Gruppe einerseits zur gröſseren,
andererseits zugleich zur Individualisierung führt. Eine Kraft-
ersparnis liegt hier insofern vor, als das religiöse Zentral-
gebilde von solchen Fragen und Angelegenheiten entlastet
wird, die der Einzelne am besten für sich allein ordnet, und
entsprechend der Einzelne nicht mehr durch die Autorität
seiner Konfession genötigt ist, mit dem, was ihm richtig
erscheint, noch eine Anzahl Glaubensartikel auſser den
Hauptsachen in Kauf zu nehmen, die ihm persönlich über-
flüssig sind.

Wenn auch keine genaue Parallelität hiermit, so doch
eine teilweise Verwandtschaft der Form zeigt die Entwick-
lung des Kriegerstandes auf. Ursprünglich ist jedes männliche
Mitglied des Stammes auch Krieger; mit jeglichem Besitz und
dem Wunsch nach Mehrbesitz ist es unmittelbar verbunden,
daſs jener verteidigt, dieser erkämpft werde; die Führung
der Waffen ist die selbstverständliche Konsequenz davon, daſs
jemand etwas zu gewinnen oder zu verlieren hat. Daſs eine
so allgemeine, natürliche, mit jeglichem Interesse verknüpfte
Bethätigung von dem Einzelnen als solchem gelöst und in
einem besonderen Gebilde verselbständigt werde, bedeutet
schon eine hohe Differenzierung und eine besonders groſse
Kraftersparnis. Denn je mehr eigentliche Kulturbeschäfti-
gungen sich ausbildeten, desto störender muſste die Notwen-
digkeit, jeden Augenblick zu den Waffen zu greifen, desto
kraftsparender die Einrichtung wirken, daſs lieber ein Teil
der Gruppe sich ganz der kriegerischen Beschäftigung wid-
mete, damit die Übrigen möglichst ungestört ihre Kräfte für
die anderen nötigen Lebensinteressen entfalten könnten; es
war eine Arbeitsteilung, welche ihren Gipfel in den Söldnern
erreichte, die von jedem auſserkriegerischen Interesse soweit
losgelöst waren, daſs sie sich jeder beliebigen Kriegspartei zu
Diensten stellten. Die erste Rückgängigmachung dieser Dif-
ferenzierung fand da statt, wo die Heere ihren internationalen
oder unpolitischen Charakter verloren und wenigstens dem
Lande entstammten, für das sie fochten, so daſs der Krieger,
wenn er auch im übrigen nur dies und nichts anderes
war, doch wenigstens zugleich Patriot sein konnte. Wo dies
aber der Fall ist, da wird doch die zugrunde liegende,
in den Kampf mitgebrachte Empfindung, der Mut, die
Spannkraft, die kriegerische Tüchtigkeit überhaupt auf eine
Höhe gehoben, die der vaterlandslose Söldner nur künstlich,
durch bewuſste Willensanstrengung und mit entsprechend
gröſserem Kraftverbrauch erreichen konnte. Überall bedeutet
es eine erhebliche Kraftersparnis, wenn eine erforderte Be-

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[132/0146] X 1. lichkeit gegeben, die vorangegangene Differenzierung wieder aufzuheben — was übrigens der in unserm dritten Kapitel gewonnenen Formel entspricht, nach der der Weg der Ent- wicklung von der kleineren Gruppe einerseits zur gröſseren, andererseits zugleich zur Individualisierung führt. Eine Kraft- ersparnis liegt hier insofern vor, als das religiöse Zentral- gebilde von solchen Fragen und Angelegenheiten entlastet wird, die der Einzelne am besten für sich allein ordnet, und entsprechend der Einzelne nicht mehr durch die Autorität seiner Konfession genötigt ist, mit dem, was ihm richtig erscheint, noch eine Anzahl Glaubensartikel auſser den Hauptsachen in Kauf zu nehmen, die ihm persönlich über- flüssig sind. Wenn auch keine genaue Parallelität hiermit, so doch eine teilweise Verwandtschaft der Form zeigt die Entwick- lung des Kriegerstandes auf. Ursprünglich ist jedes männliche Mitglied des Stammes auch Krieger; mit jeglichem Besitz und dem Wunsch nach Mehrbesitz ist es unmittelbar verbunden, daſs jener verteidigt, dieser erkämpft werde; die Führung der Waffen ist die selbstverständliche Konsequenz davon, daſs jemand etwas zu gewinnen oder zu verlieren hat. Daſs eine so allgemeine, natürliche, mit jeglichem Interesse verknüpfte Bethätigung von dem Einzelnen als solchem gelöst und in einem besonderen Gebilde verselbständigt werde, bedeutet schon eine hohe Differenzierung und eine besonders groſse Kraftersparnis. Denn je mehr eigentliche Kulturbeschäfti- gungen sich ausbildeten, desto störender muſste die Notwen- digkeit, jeden Augenblick zu den Waffen zu greifen, desto kraftsparender die Einrichtung wirken, daſs lieber ein Teil der Gruppe sich ganz der kriegerischen Beschäftigung wid- mete, damit die Übrigen möglichst ungestört ihre Kräfte für die anderen nötigen Lebensinteressen entfalten könnten; es war eine Arbeitsteilung, welche ihren Gipfel in den Söldnern erreichte, die von jedem auſserkriegerischen Interesse soweit losgelöst waren, daſs sie sich jeder beliebigen Kriegspartei zu Diensten stellten. Die erste Rückgängigmachung dieser Dif- ferenzierung fand da statt, wo die Heere ihren internationalen oder unpolitischen Charakter verloren und wenigstens dem Lande entstammten, für das sie fochten, so daſs der Krieger, wenn er auch im übrigen nur dies und nichts anderes war, doch wenigstens zugleich Patriot sein konnte. Wo dies aber der Fall ist, da wird doch die zugrunde liegende, in den Kampf mitgebrachte Empfindung, der Mut, die Spannkraft, die kriegerische Tüchtigkeit überhaupt auf eine Höhe gehoben, die der vaterlandslose Söldner nur künstlich, durch bewuſste Willensanstrengung und mit entsprechend gröſserem Kraftverbrauch erreichen konnte. Überall bedeutet es eine erhebliche Kraftersparnis, wenn eine erforderte Be-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/146>, abgerufen am 27.11.2024.