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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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über den Priester und das weitläufige Zeremoniell überflüssig
gemacht; wie es nicht mehr der Wallfahrt nach bestimmten
Orten bedurfte, sondern von jedem Kämmerlein aus ein kür-
zester Weg zu Gottes Ohre führte; wie das Gebet nicht mehr
die Instanz der fürsprechenden Heiligen passieren musste, um
Erfüllung zu finden; wie das individuelle Gewissen sich un-
mittelbar des sittlichen Wertes der Handlungen bewusst werden
durfte, ohne erst durch Nachfrage beim Priester diesen und
sich selbst mit Aussprachen, Zweifeln, Vermittelungen zu be-
lasten, -- so wurde die Gesamtheit der innerlichen und äusser-
lichen Religiosität vereinfacht und durch Rückgewähr der
herausdifferenzierten religiösen Qualitäten an den Einzelnen
die Kraft gespart, die der zu ihrer Bewährung nötige Umweg
über das Zentralorgan gekostet hatte.

Wir finden endlich die folgende Form, in der eine kraft-
sparende Rückbildung der Differenzierung stattfindet, insbe-
sondere in religiösen Verhältnissen. Zwei Parteien, von ge-
meinsamer Grundlage ausgehend, haben sich auf Unterschei-
dungslehren hin als entschieden gesonderte, für sich bestehende
Gruppen konstituiert. Nun soll eine Wiedervereinigung statt-
finden; allein nicht so wird das oft möglich sein, dass das
Unterscheidende von einer oder von beiden aufgegeben wird,
sondern nur so, dass es zur Sache der persönlichen Über-
zeugung jedes einzelnen Mitgliedes wird. Das Gemeinsame
beider, das für jede bisher nur in so fester Verbindung mit
ihrer specifischen Differenz existiert hatte, dass jede Partei
es sozusagen für sich allein besass und es kein Gemeinsames
im Sinne einer zusammenschliessenden Kraft war, wird nun
wieder ein solches unter Vernachlässigung jener Differenzen.
Diese letzteren dagegen verlieren ihre gruppenbildende Macht
und werden vom Ganzen auf das Individuum übertragen.
Bei den Aussöhnungsversuchen, denen sich Paul III. den
Lutheranern gegenüber geneigt zeigte, war die Absicht offen-
bar beiderseits auf eine derartige Formulierung der Dogmen
gerichtet, die beiden Parteien wieder einen gemeinsamen Boden
gewährte, während es im übrigen jedem überlassen bleiben
konnte, sich für sein Teil noch das Besondere und Ab-
weichende, dessen er bedurfte, hinzuzudenken. Auch bei der
evangelischen Union in Preussen war die Meinung keines-
wegs die, dass die bisherigen Unterscheidungslehren ver-
schwinden, sondern nur, dass sie zur Privatsache jedes werden
sollten, statt von einem besonders differenzierten konfessionellen
Gebilde getragen zu werden; es stünde dem Unionisten demnach
noch frei, von der Willensfreiheit im lutherischen Sinne, vom
Abendmahl im reformierten zu denken. Die scheidenden
Fragen waren nur keine entscheidenden mehr; sie waren
wieder an das Gewissen des Einzelnen zurückgegangen und
hatten dadurch den gemeinsamen Grundgedanken die Mög-

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über den Priester und das weitläufige Zeremoniell überflüssig
gemacht; wie es nicht mehr der Wallfahrt nach bestimmten
Orten bedurfte, sondern von jedem Kämmerlein aus ein kür-
zester Weg zu Gottes Ohre führte; wie das Gebet nicht mehr
die Instanz der fürsprechenden Heiligen passieren muſste, um
Erfüllung zu finden; wie das individuelle Gewissen sich un-
mittelbar des sittlichen Wertes der Handlungen bewuſst werden
durfte, ohne erst durch Nachfrage beim Priester diesen und
sich selbst mit Aussprachen, Zweifeln, Vermittelungen zu be-
lasten, — so wurde die Gesamtheit der innerlichen und äuſser-
lichen Religiosität vereinfacht und durch Rückgewähr der
herausdifferenzierten religiösen Qualitäten an den Einzelnen
die Kraft gespart, die der zu ihrer Bewährung nötige Umweg
über das Zentralorgan gekostet hatte.

Wir finden endlich die folgende Form, in der eine kraft-
sparende Rückbildung der Differenzierung stattfindet, insbe-
sondere in religiösen Verhältnissen. Zwei Parteien, von ge-
meinsamer Grundlage ausgehend, haben sich auf Unterschei-
dungslehren hin als entschieden gesonderte, für sich bestehende
Gruppen konstituiert. Nun soll eine Wiedervereinigung statt-
finden; allein nicht so wird das oft möglich sein, daſs das
Unterscheidende von einer oder von beiden aufgegeben wird,
sondern nur so, daſs es zur Sache der persönlichen Über-
zeugung jedes einzelnen Mitgliedes wird. Das Gemeinsame
beider, das für jede bisher nur in so fester Verbindung mit
ihrer specifischen Differenz existiert hatte, daſs jede Partei
es sozusagen für sich allein besaſs und es kein Gemeinsames
im Sinne einer zusammenschlieſsenden Kraft war, wird nun
wieder ein solches unter Vernachlässigung jener Differenzen.
Diese letzteren dagegen verlieren ihre gruppenbildende Macht
und werden vom Ganzen auf das Individuum übertragen.
Bei den Aussöhnungsversuchen, denen sich Paul III. den
Lutheranern gegenüber geneigt zeigte, war die Absicht offen-
bar beiderseits auf eine derartige Formulierung der Dogmen
gerichtet, die beiden Parteien wieder einen gemeinsamen Boden
gewährte, während es im übrigen jedem überlassen bleiben
konnte, sich für sein Teil noch das Besondere und Ab-
weichende, dessen er bedurfte, hinzuzudenken. Auch bei der
evangelischen Union in Preuſsen war die Meinung keines-
wegs die, daſs die bisherigen Unterscheidungslehren ver-
schwinden, sondern nur, dass sie zur Privatsache jedes werden
sollten, statt von einem besonders differenzierten konfessionellen
Gebilde getragen zu werden; es stünde dem Unionisten demnach
noch frei, von der Willensfreiheit im lutherischen Sinne, vom
Abendmahl im reformierten zu denken. Die scheidenden
Fragen waren nur keine entscheidenden mehr; sie waren
wieder an das Gewissen des Einzelnen zurückgegangen und
hatten dadurch den gemeinsamen Grundgedanken die Mög-

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[131/0145] X 1. über den Priester und das weitläufige Zeremoniell überflüssig gemacht; wie es nicht mehr der Wallfahrt nach bestimmten Orten bedurfte, sondern von jedem Kämmerlein aus ein kür- zester Weg zu Gottes Ohre führte; wie das Gebet nicht mehr die Instanz der fürsprechenden Heiligen passieren muſste, um Erfüllung zu finden; wie das individuelle Gewissen sich un- mittelbar des sittlichen Wertes der Handlungen bewuſst werden durfte, ohne erst durch Nachfrage beim Priester diesen und sich selbst mit Aussprachen, Zweifeln, Vermittelungen zu be- lasten, — so wurde die Gesamtheit der innerlichen und äuſser- lichen Religiosität vereinfacht und durch Rückgewähr der herausdifferenzierten religiösen Qualitäten an den Einzelnen die Kraft gespart, die der zu ihrer Bewährung nötige Umweg über das Zentralorgan gekostet hatte. Wir finden endlich die folgende Form, in der eine kraft- sparende Rückbildung der Differenzierung stattfindet, insbe- sondere in religiösen Verhältnissen. Zwei Parteien, von ge- meinsamer Grundlage ausgehend, haben sich auf Unterschei- dungslehren hin als entschieden gesonderte, für sich bestehende Gruppen konstituiert. Nun soll eine Wiedervereinigung statt- finden; allein nicht so wird das oft möglich sein, daſs das Unterscheidende von einer oder von beiden aufgegeben wird, sondern nur so, daſs es zur Sache der persönlichen Über- zeugung jedes einzelnen Mitgliedes wird. Das Gemeinsame beider, das für jede bisher nur in so fester Verbindung mit ihrer specifischen Differenz existiert hatte, daſs jede Partei es sozusagen für sich allein besaſs und es kein Gemeinsames im Sinne einer zusammenschlieſsenden Kraft war, wird nun wieder ein solches unter Vernachlässigung jener Differenzen. Diese letzteren dagegen verlieren ihre gruppenbildende Macht und werden vom Ganzen auf das Individuum übertragen. Bei den Aussöhnungsversuchen, denen sich Paul III. den Lutheranern gegenüber geneigt zeigte, war die Absicht offen- bar beiderseits auf eine derartige Formulierung der Dogmen gerichtet, die beiden Parteien wieder einen gemeinsamen Boden gewährte, während es im übrigen jedem überlassen bleiben konnte, sich für sein Teil noch das Besondere und Ab- weichende, dessen er bedurfte, hinzuzudenken. Auch bei der evangelischen Union in Preuſsen war die Meinung keines- wegs die, daſs die bisherigen Unterscheidungslehren ver- schwinden, sondern nur, dass sie zur Privatsache jedes werden sollten, statt von einem besonders differenzierten konfessionellen Gebilde getragen zu werden; es stünde dem Unionisten demnach noch frei, von der Willensfreiheit im lutherischen Sinne, vom Abendmahl im reformierten zu denken. Die scheidenden Fragen waren nur keine entscheidenden mehr; sie waren wieder an das Gewissen des Einzelnen zurückgegangen und hatten dadurch den gemeinsamen Grundgedanken die Mög- 9*

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/145>, abgerufen am 23.11.2024.