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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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hätten; dann aber bewirkte es doch eine negative Zuchtwahl.
Denn für alle tieferen und geistigeren Naturen gab es keinen
anderen Beruf, als das Klosterleben, und da dieses den Cö-
libat forderte, so war die Vererbung höherer geistiger Anlage
stark verhindert; gerade die roheren und niedrigeren Naturen
gewannen dadurch das Feld für sich und ihre Nachkommen-
schaft. Das ist immer und überall der Fluch des Keusch-
heitsideales; gilt die Keuschheit als sittliche Forderung und
sittliches Verdienst, so wird sie doch nur diejenigen Seelen
für sich gewinnen, die überhaupt der Beeinflussung durch
ideale Momente zugänglich sind, also gerade die feineren,
höheren, ethisch angelegten, und der Verzicht dieser auf Fort-
pflanzung muss notwendig das schlechte Vererbungsmaterial
überwiegen machen. Wir haben hierin ein Beispiel für den
oben charakterisierten Fall, dass die Konzentration der Kräfte
auf ein arbeitsteilig bestimmtes Glied zunächst zwar eine Stär-
kung, dann aber auf dem Umwege über die Gesamtverhält-
nisse des Organismus eine Schwächung eben dieses bewirkt.
Zuerst wurden durch die scharfe Differenzierung zwischen
den Organen für die geistigen und für die irdischen Interessen
die ersteren konserviert und gesteigert; indem sie aber durch
die völlige Abkehr vom Sinnlichen die Durchdringung der
grösseren Massen mit vererbbaren höheren Qualitäten ver-
hinderten, sich selbst aber wieder nur aus eben diesen Massen
rekrutieren konnten, musste ihr eigenes Material schliesslich
degenerieren. Dazu kam der Dogmatismus im Inhalt der
Lehre, der die fortschrittliche Entfaltung geistigen Lebens
zunächst durch unmittelbare Einwirkung auf die Geister, dann
aber auch mittelbar durch die Ketzerverfolgung beschränkte,
welche man gleichfalls mit einer Zuchtwahl verglichen hat,
die mit äusserster Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten
Männer auswählte, um sie auf irgend eine Weise unschädlich
zu machen. Allein in alledem hat doch vielleicht eine segens-
reiche Kraftersparnis gelegen. Vielleicht war damals die
geistige Kraft der Völker in ihren älteren Bestandteilen zu
erschöpft, in ihren jüngeren zu barbarisch, um bei voller
Freiheit zur Entwicklung jedes geistigen Triebes tüchtige
Gebilde hervorzubringen; es war vielmehr günstig, dass ihr
Auskeimen verhindert oder beschnitten und dadurch die Säfte
konzentriert wurden; das Mittelalter war so eine Spar-
büchse für die Kräfte der Volksseele; seine bornierende Re-
ligiosität versah die Stelle des Gärtners, der die unzeitigen
Triebe wegschneidet, bis sich durch Konzentrierung des für
sie doch nur verschwendeten Saftes ein wahrhaft lebensfähiger
Zweig bildet. Wie viele Kräfte nun aber durch das Rück-
gängigmachen jener Arbeitsteilung in der Reformation direkt
und indirekt gespart wurden, liegt auf der Hand. Nun war
für die religiöse Empfindung und Bethätigung der Umweg

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hätten; dann aber bewirkte es doch eine negative Zuchtwahl.
Denn für alle tieferen und geistigeren Naturen gab es keinen
anderen Beruf, als das Klosterleben, und da dieses den Cö-
libat forderte, so war die Vererbung höherer geistiger Anlage
stark verhindert; gerade die roheren und niedrigeren Naturen
gewannen dadurch das Feld für sich und ihre Nachkommen-
schaft. Das ist immer und überall der Fluch des Keusch-
heitsideales; gilt die Keuschheit als sittliche Forderung und
sittliches Verdienst, so wird sie doch nur diejenigen Seelen
für sich gewinnen, die überhaupt der Beeinflussung durch
ideale Momente zugänglich sind, also gerade die feineren,
höheren, ethisch angelegten, und der Verzicht dieser auf Fort-
pflanzung muſs notwendig das schlechte Vererbungsmaterial
überwiegen machen. Wir haben hierin ein Beispiel für den
oben charakterisierten Fall, daſs die Konzentration der Kräfte
auf ein arbeitsteilig bestimmtes Glied zunächst zwar eine Stär-
kung, dann aber auf dem Umwege über die Gesamtverhält-
nisse des Organismus eine Schwächung eben dieses bewirkt.
Zuerst wurden durch die scharfe Differenzierung zwischen
den Organen für die geistigen und für die irdischen Interessen
die ersteren konserviert und gesteigert; indem sie aber durch
die völlige Abkehr vom Sinnlichen die Durchdringung der
gröſseren Massen mit vererbbaren höheren Qualitäten ver-
hinderten, sich selbst aber wieder nur aus eben diesen Massen
rekrutieren konnten, muſste ihr eigenes Material schlieſslich
degenerieren. Dazu kam der Dogmatismus im Inhalt der
Lehre, der die fortschrittliche Entfaltung geistigen Lebens
zunächst durch unmittelbare Einwirkung auf die Geister, dann
aber auch mittelbar durch die Ketzerverfolgung beschränkte,
welche man gleichfalls mit einer Zuchtwahl verglichen hat,
die mit äuſserster Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten
Männer auswählte, um sie auf irgend eine Weise unschädlich
zu machen. Allein in alledem hat doch vielleicht eine segens-
reiche Kraftersparnis gelegen. Vielleicht war damals die
geistige Kraft der Völker in ihren älteren Bestandteilen zu
erschöpft, in ihren jüngeren zu barbarisch, um bei voller
Freiheit zur Entwicklung jedes geistigen Triebes tüchtige
Gebilde hervorzubringen; es war vielmehr günstig, daſs ihr
Auskeimen verhindert oder beschnitten und dadurch die Säfte
konzentriert wurden; das Mittelalter war so eine Spar-
büchse für die Kräfte der Volksseele; seine bornierende Re-
ligiosität versah die Stelle des Gärtners, der die unzeitigen
Triebe wegschneidet, bis sich durch Konzentrierung des für
sie doch nur verschwendeten Saftes ein wahrhaft lebensfähiger
Zweig bildet. Wie viele Kräfte nun aber durch das Rück-
gängigmachen jener Arbeitsteilung in der Reformation direkt
und indirekt gespart wurden, liegt auf der Hand. Nun war
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[130/0144] X 1. hätten; dann aber bewirkte es doch eine negative Zuchtwahl. Denn für alle tieferen und geistigeren Naturen gab es keinen anderen Beruf, als das Klosterleben, und da dieses den Cö- libat forderte, so war die Vererbung höherer geistiger Anlage stark verhindert; gerade die roheren und niedrigeren Naturen gewannen dadurch das Feld für sich und ihre Nachkommen- schaft. Das ist immer und überall der Fluch des Keusch- heitsideales; gilt die Keuschheit als sittliche Forderung und sittliches Verdienst, so wird sie doch nur diejenigen Seelen für sich gewinnen, die überhaupt der Beeinflussung durch ideale Momente zugänglich sind, also gerade die feineren, höheren, ethisch angelegten, und der Verzicht dieser auf Fort- pflanzung muſs notwendig das schlechte Vererbungsmaterial überwiegen machen. Wir haben hierin ein Beispiel für den oben charakterisierten Fall, daſs die Konzentration der Kräfte auf ein arbeitsteilig bestimmtes Glied zunächst zwar eine Stär- kung, dann aber auf dem Umwege über die Gesamtverhält- nisse des Organismus eine Schwächung eben dieses bewirkt. Zuerst wurden durch die scharfe Differenzierung zwischen den Organen für die geistigen und für die irdischen Interessen die ersteren konserviert und gesteigert; indem sie aber durch die völlige Abkehr vom Sinnlichen die Durchdringung der gröſseren Massen mit vererbbaren höheren Qualitäten ver- hinderten, sich selbst aber wieder nur aus eben diesen Massen rekrutieren konnten, muſste ihr eigenes Material schlieſslich degenerieren. Dazu kam der Dogmatismus im Inhalt der Lehre, der die fortschrittliche Entfaltung geistigen Lebens zunächst durch unmittelbare Einwirkung auf die Geister, dann aber auch mittelbar durch die Ketzerverfolgung beschränkte, welche man gleichfalls mit einer Zuchtwahl verglichen hat, die mit äuſserster Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten Männer auswählte, um sie auf irgend eine Weise unschädlich zu machen. Allein in alledem hat doch vielleicht eine segens- reiche Kraftersparnis gelegen. Vielleicht war damals die geistige Kraft der Völker in ihren älteren Bestandteilen zu erschöpft, in ihren jüngeren zu barbarisch, um bei voller Freiheit zur Entwicklung jedes geistigen Triebes tüchtige Gebilde hervorzubringen; es war vielmehr günstig, daſs ihr Auskeimen verhindert oder beschnitten und dadurch die Säfte konzentriert wurden; das Mittelalter war so eine Spar- büchse für die Kräfte der Volksseele; seine bornierende Re- ligiosität versah die Stelle des Gärtners, der die unzeitigen Triebe wegschneidet, bis sich durch Konzentrierung des für sie doch nur verschwendeten Saftes ein wahrhaft lebensfähiger Zweig bildet. Wie viele Kräfte nun aber durch das Rück- gängigmachen jener Arbeitsteilung in der Reformation direkt und indirekt gespart wurden, liegt auf der Hand. Nun war für die religiöse Empfindung und Bethätigung der Umweg

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/144>, abgerufen am 23.11.2024.