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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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die jede an den Staat übergegangene Funktion treffen: die
Etatisierung der Ausgaben, die Notwendigkeit, jede kleinste
Aufwendung in einer Balancierung ungeheurer Gesamtsummen
zu halten, die Vielfachheit der Kontrolle, die, im allgemeinen
notwendig, im einzelnen oft überflüssig ist, das Interesse der
politischen Parteien und die öffentliche Kritik, die oft einer-
seits zu unnützen Versuchen zwingen, andererseits nützliche
unterdrücken, die besonderen Berechtigungen, die die vom
Staate angestellten Funktionäre geniessen: die Pension, das
sociale Übergewicht und vieles andere, -- kurz, das Prinzip
der Kraftersparnis wird vielfach die Ablösung der Funktionen
von den individuellen Wesen und ihre Übertragung auf einen
Zentralkörper ebenso einschränken, wie es sie andererseits
hervorruft.

Die zwischen Differenzierung und ihrem Gegenteil wech-
selnde Zweckmässigkeit der Entwicklung zeigt sich klar auf
dem religiösen und auf dem militärischen Gebiet. Die Ent-
wicklung der christlichen Kirche hatte sehr früh zu einer
Scheidung zwischen den Vollkommenen und den Alltags-
menschen geführt, zwischen einer geistig-geistlichen Aristo-
kratie und der misera contribuens plebs. Der Priesterstand
der katholischen Kirche, der die Beziehungen der Gläubigen
zum Himmel vermittelt, ist nur ein Resultat eben derselben
Arbeitsteilung, die etwa die Post als ein besonderes sociales
Organ konstituiert hat, um die Beziehungen der Bürger zu
entfernten Orten zu vermitteln. Diese Differenzierung hob
die Reformation auf; sie gab dem Einzelnen die Beziehung
zu seinem Gott wieder, die der Katholizismus von ihm ab-
gelöst und in einem Zentralgebilde zusammengeschlossen hatte;
die Religionsgüter wurden von neuem jedem zugänglich, und
die irdischen Verhältnisse, Haus und Herd, Familie und bür-
gerlicher Beruf, erhielten eine religiöse Weihe oder wenigstens
die Möglichkeit zu ihr, die die frühere Differenzierung von
ihnen getrennt hatte. Die vollständigste Beseitigung dieser
zeigen dann die Gemeinden, in denen überhaupt kein beson-
derer Priesterstand mehr existiert, sondern jeder, je nachdem
der Geist ihn treibt, predigt.

Inwieweit jener frühere Zustand indes unter das Prinzip
der Kraftersparnis fällt, zeigt die folgende Betrachtung. Drei
wesentliche Requisite des Katholizismus: der Cölibat, das
Klosterleben und die dogmatische Hierarchie, die sich zur
Inquisition aufgipfelte, waren höchst wirksame und umfassende
Mittel, um alles geistige Leben in einem bestimmten Stande
zu monopolisieren, der alle Elemente des Fortschritts aus den
weitesten Kreisen heraussaugte; dies war zwar in den aller-
rohesten Zeiten ein Weg, um die vorhandenen geistigen Kräfte
zu konservieren, die sich ohne Anhalt an einem bestimmten
Stande und bestimmten Mittelpunkten wirkungslos zerstreut

Forschungen (42) X 1. -- Simmel. 9

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die jede an den Staat übergegangene Funktion treffen: die
Etatisierung der Ausgaben, die Notwendigkeit, jede kleinste
Aufwendung in einer Balancierung ungeheurer Gesamtsummen
zu halten, die Vielfachheit der Kontrolle, die, im allgemeinen
notwendig, im einzelnen oft überflüssig ist, das Interesse der
politischen Parteien und die öffentliche Kritik, die oft einer-
seits zu unnützen Versuchen zwingen, andererseits nützliche
unterdrücken, die besonderen Berechtigungen, die die vom
Staate angestellten Funktionäre genieſsen: die Pension, das
sociale Übergewicht und vieles andere, — kurz, das Prinzip
der Kraftersparnis wird vielfach die Ablösung der Funktionen
von den individuellen Wesen und ihre Übertragung auf einen
Zentralkörper ebenso einschränken, wie es sie andererseits
hervorruft.

Die zwischen Differenzierung und ihrem Gegenteil wech-
selnde Zweckmäſsigkeit der Entwicklung zeigt sich klar auf
dem religiösen und auf dem militärischen Gebiet. Die Ent-
wicklung der christlichen Kirche hatte sehr früh zu einer
Scheidung zwischen den Vollkommenen und den Alltags-
menschen geführt, zwischen einer geistig-geistlichen Aristo-
kratie und der misera contribuens plebs. Der Priesterstand
der katholischen Kirche, der die Beziehungen der Gläubigen
zum Himmel vermittelt, ist nur ein Resultat eben derselben
Arbeitsteilung, die etwa die Post als ein besonderes sociales
Organ konstituiert hat, um die Beziehungen der Bürger zu
entfernten Orten zu vermitteln. Diese Differenzierung hob
die Reformation auf; sie gab dem Einzelnen die Beziehung
zu seinem Gott wieder, die der Katholizismus von ihm ab-
gelöst und in einem Zentralgebilde zusammengeschlossen hatte;
die Religionsgüter wurden von neuem jedem zugänglich, und
die irdischen Verhältnisse, Haus und Herd, Familie und bür-
gerlicher Beruf, erhielten eine religiöse Weihe oder wenigstens
die Möglichkeit zu ihr, die die frühere Differenzierung von
ihnen getrennt hatte. Die vollständigste Beseitigung dieser
zeigen dann die Gemeinden, in denen überhaupt kein beson-
derer Priesterstand mehr existiert, sondern jeder, je nachdem
der Geist ihn treibt, predigt.

Inwieweit jener frühere Zustand indes unter das Prinzip
der Kraftersparnis fällt, zeigt die folgende Betrachtung. Drei
wesentliche Requisite des Katholizismus: der Cölibat, das
Klosterleben und die dogmatische Hierarchie, die sich zur
Inquisition aufgipfelte, waren höchst wirksame und umfassende
Mittel, um alles geistige Leben in einem bestimmten Stande
zu monopolisieren, der alle Elemente des Fortschritts aus den
weitesten Kreisen heraussaugte; dies war zwar in den aller-
rohesten Zeiten ein Weg, um die vorhandenen geistigen Kräfte
zu konservieren, die sich ohne Anhalt an einem bestimmten
Stande und bestimmten Mittelpunkten wirkungslos zerstreut

Forschungen (42) X 1. — Simmel. 9
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[129/0143] X 1. die jede an den Staat übergegangene Funktion treffen: die Etatisierung der Ausgaben, die Notwendigkeit, jede kleinste Aufwendung in einer Balancierung ungeheurer Gesamtsummen zu halten, die Vielfachheit der Kontrolle, die, im allgemeinen notwendig, im einzelnen oft überflüssig ist, das Interesse der politischen Parteien und die öffentliche Kritik, die oft einer- seits zu unnützen Versuchen zwingen, andererseits nützliche unterdrücken, die besonderen Berechtigungen, die die vom Staate angestellten Funktionäre genieſsen: die Pension, das sociale Übergewicht und vieles andere, — kurz, das Prinzip der Kraftersparnis wird vielfach die Ablösung der Funktionen von den individuellen Wesen und ihre Übertragung auf einen Zentralkörper ebenso einschränken, wie es sie andererseits hervorruft. Die zwischen Differenzierung und ihrem Gegenteil wech- selnde Zweckmäſsigkeit der Entwicklung zeigt sich klar auf dem religiösen und auf dem militärischen Gebiet. Die Ent- wicklung der christlichen Kirche hatte sehr früh zu einer Scheidung zwischen den Vollkommenen und den Alltags- menschen geführt, zwischen einer geistig-geistlichen Aristo- kratie und der misera contribuens plebs. Der Priesterstand der katholischen Kirche, der die Beziehungen der Gläubigen zum Himmel vermittelt, ist nur ein Resultat eben derselben Arbeitsteilung, die etwa die Post als ein besonderes sociales Organ konstituiert hat, um die Beziehungen der Bürger zu entfernten Orten zu vermitteln. Diese Differenzierung hob die Reformation auf; sie gab dem Einzelnen die Beziehung zu seinem Gott wieder, die der Katholizismus von ihm ab- gelöst und in einem Zentralgebilde zusammengeschlossen hatte; die Religionsgüter wurden von neuem jedem zugänglich, und die irdischen Verhältnisse, Haus und Herd, Familie und bür- gerlicher Beruf, erhielten eine religiöse Weihe oder wenigstens die Möglichkeit zu ihr, die die frühere Differenzierung von ihnen getrennt hatte. Die vollständigste Beseitigung dieser zeigen dann die Gemeinden, in denen überhaupt kein beson- derer Priesterstand mehr existiert, sondern jeder, je nachdem der Geist ihn treibt, predigt. Inwieweit jener frühere Zustand indes unter das Prinzip der Kraftersparnis fällt, zeigt die folgende Betrachtung. Drei wesentliche Requisite des Katholizismus: der Cölibat, das Klosterleben und die dogmatische Hierarchie, die sich zur Inquisition aufgipfelte, waren höchst wirksame und umfassende Mittel, um alles geistige Leben in einem bestimmten Stande zu monopolisieren, der alle Elemente des Fortschritts aus den weitesten Kreisen heraussaugte; dies war zwar in den aller- rohesten Zeiten ein Weg, um die vorhandenen geistigen Kräfte zu konservieren, die sich ohne Anhalt an einem bestimmten Stande und bestimmten Mittelpunkten wirkungslos zerstreut Forschungen (42) X 1. — Simmel. 9

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/143>, abgerufen am 23.11.2024.