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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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Angehörigen, insoweit er ein solcher ist, alle anders gearteten
Triebe, von denen er von vornherein doch nicht ganz frei zu
sein pflegt; verfolgen wir die psychologischen Momente, die
die Parteistellung des Einzelnen bestimmen, so sehen wir, wie
in den weitaus meisten Fällen nicht eine undurchbrechliche
Naturanlage auf sie hingedrängt hat, sondern die Zufälligkeit
der Umstände und Einflüsse, denen der Einzelne ausgesetzt
war, und die in ihm gerade die eine von verschiedenen
Richtungsmöglichkeiten und potentiell vorhandenen Kräften
zur Entwicklung gebracht haben, während die anderen rudi-
mentär werden. Aus diesem letzten Umstande, aus dem Auf-
hören der inneren Gegenbewegungen, die vor dem Eintritt in
eine einseitige Partei unserm Denken und Wollen einen Teil
seiner Kraft nehmen, erklärt sich die Macht, die die Partei
über das Individuum übt, und die sich u. A. darin zeigt, dass
die sittlichsten und gewissenhaftesten Menschen die ganze
rücksichtslose Interessenpolitik mitmachen, die eben die Partei
als solche für nötig findet, welche sich um Bedenken der in-
dividuellen Moral fast so wenig kümmert, wie es Staaten
untereinander thun. In dieser Einseitigkeit liegt ihre Stärke,
wie es sich besonders daraus ergiebt, dass die Parteileiden-
schaft ihre volle Wucht auch dann noch behält, ja oft erst
entfaltet, wenn die Parteiung ihren Sinn und ihre Bedeutung
ganz verloren hat, wenn gar nicht mehr um positive Ziele
gestritten wird, sondern die durch keinen sachlichen Grund
mehr bestimmte Zugehörigkeit zu einer Partei den Antago-
nismus gegen die andere hervorruft. Vielleicht das stärkste
Beispiel sind die Zirkusparteien in Rom und Byzanz; trotzdem
nicht der geringste sachliche Unterschied die weisse von der
rothen Partei, die blaue von der grünen trennte, um so we-
niger, als schliesslich nicht einmal die Pferde und Lenker den
Parteien eigentümlich, sondern von Unternehmern gehalten
waren, die sie jeder beliebigen Partei vermietheten, -- trotz-
dem genügte das zufällige Ergreifen der einen oder der an-
deren Partei, um ein tödlicher Feind der entgegengesetzten
zu werden. Unzählige Familienzwiste früherer Zeiten trugen,
wenn sie mehrere Generationen hindurch gewährt hatten,
keinen anderen Charakter; das Objekt des Streites war oft
längst verschwunden; aber die Thatsache, dass man der einen
oder der anderen Familie angehörte, gab jedem eine Partei-
stellung des schärfsten Gegensatzes gegen die andere. Als im
14. und 15. Jahrhundert die Tyrannieen in Italien aufkamen
und dadurch das politische Parteileben überhaupt jede Be-
deutung verlor, dauerten dennoch die Kämpfe zwischen Guelfen
und Ghibellinen weiter fort, aber ohne irgendeinen Inhalt: der
Parteigegensatz als solcher hatte eine Bedeutung gewonnen,
die nach seinem Sinne gar nicht mehr fragte. Kurz, die
Differenzierung, die in der Parteiung liegt, entwickelt Kräfte,

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Angehörigen, insoweit er ein solcher ist, alle anders gearteten
Triebe, von denen er von vornherein doch nicht ganz frei zu
sein pflegt; verfolgen wir die psychologischen Momente, die
die Parteistellung des Einzelnen bestimmen, so sehen wir, wie
in den weitaus meisten Fällen nicht eine undurchbrechliche
Naturanlage auf sie hingedrängt hat, sondern die Zufälligkeit
der Umstände und Einflüsse, denen der Einzelne ausgesetzt
war, und die in ihm gerade die eine von verschiedenen
Richtungsmöglichkeiten und potentiell vorhandenen Kräften
zur Entwicklung gebracht haben, während die anderen rudi-
mentär werden. Aus diesem letzten Umstande, aus dem Auf-
hören der inneren Gegenbewegungen, die vor dem Eintritt in
eine einseitige Partei unserm Denken und Wollen einen Teil
seiner Kraft nehmen, erklärt sich die Macht, die die Partei
über das Individuum übt, und die sich u. A. darin zeigt, daſs
die sittlichsten und gewissenhaftesten Menschen die ganze
rücksichtslose Interessenpolitik mitmachen, die eben die Partei
als solche für nötig findet, welche sich um Bedenken der in-
dividuellen Moral fast so wenig kümmert, wie es Staaten
untereinander thun. In dieser Einseitigkeit liegt ihre Stärke,
wie es sich besonders daraus ergiebt, daſs die Parteileiden-
schaft ihre volle Wucht auch dann noch behält, ja oft erst
entfaltet, wenn die Parteiung ihren Sinn und ihre Bedeutung
ganz verloren hat, wenn gar nicht mehr um positive Ziele
gestritten wird, sondern die durch keinen sachlichen Grund
mehr bestimmte Zugehörigkeit zu einer Partei den Antago-
nismus gegen die andere hervorruft. Vielleicht das stärkste
Beispiel sind die Zirkusparteien in Rom und Byzanz; trotzdem
nicht der geringste sachliche Unterschied die weiſse von der
rothen Partei, die blaue von der grünen trennte, um so we-
niger, als schlieſslich nicht einmal die Pferde und Lenker den
Parteien eigentümlich, sondern von Unternehmern gehalten
waren, die sie jeder beliebigen Partei vermietheten, — trotz-
dem genügte das zufällige Ergreifen der einen oder der an-
deren Partei, um ein tödlicher Feind der entgegengesetzten
zu werden. Unzählige Familienzwiste früherer Zeiten trugen,
wenn sie mehrere Generationen hindurch gewährt hatten,
keinen anderen Charakter; das Objekt des Streites war oft
längst verschwunden; aber die Thatsache, daſs man der einen
oder der anderen Familie angehörte, gab jedem eine Partei-
stellung des schärfsten Gegensatzes gegen die andere. Als im
14. und 15. Jahrhundert die Tyrannieen in Italien aufkamen
und dadurch das politische Parteileben überhaupt jede Be-
deutung verlor, dauerten dennoch die Kämpfe zwischen Guelfen
und Ghibellinen weiter fort, aber ohne irgendeinen Inhalt: der
Parteigegensatz als solcher hatte eine Bedeutung gewonnen,
die nach seinem Sinne gar nicht mehr fragte. Kurz, die
Differenzierung, die in der Parteiung liegt, entwickelt Kräfte,

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[121/0135] X 1. Angehörigen, insoweit er ein solcher ist, alle anders gearteten Triebe, von denen er von vornherein doch nicht ganz frei zu sein pflegt; verfolgen wir die psychologischen Momente, die die Parteistellung des Einzelnen bestimmen, so sehen wir, wie in den weitaus meisten Fällen nicht eine undurchbrechliche Naturanlage auf sie hingedrängt hat, sondern die Zufälligkeit der Umstände und Einflüsse, denen der Einzelne ausgesetzt war, und die in ihm gerade die eine von verschiedenen Richtungsmöglichkeiten und potentiell vorhandenen Kräften zur Entwicklung gebracht haben, während die anderen rudi- mentär werden. Aus diesem letzten Umstande, aus dem Auf- hören der inneren Gegenbewegungen, die vor dem Eintritt in eine einseitige Partei unserm Denken und Wollen einen Teil seiner Kraft nehmen, erklärt sich die Macht, die die Partei über das Individuum übt, und die sich u. A. darin zeigt, daſs die sittlichsten und gewissenhaftesten Menschen die ganze rücksichtslose Interessenpolitik mitmachen, die eben die Partei als solche für nötig findet, welche sich um Bedenken der in- dividuellen Moral fast so wenig kümmert, wie es Staaten untereinander thun. In dieser Einseitigkeit liegt ihre Stärke, wie es sich besonders daraus ergiebt, daſs die Parteileiden- schaft ihre volle Wucht auch dann noch behält, ja oft erst entfaltet, wenn die Parteiung ihren Sinn und ihre Bedeutung ganz verloren hat, wenn gar nicht mehr um positive Ziele gestritten wird, sondern die durch keinen sachlichen Grund mehr bestimmte Zugehörigkeit zu einer Partei den Antago- nismus gegen die andere hervorruft. Vielleicht das stärkste Beispiel sind die Zirkusparteien in Rom und Byzanz; trotzdem nicht der geringste sachliche Unterschied die weiſse von der rothen Partei, die blaue von der grünen trennte, um so we- niger, als schlieſslich nicht einmal die Pferde und Lenker den Parteien eigentümlich, sondern von Unternehmern gehalten waren, die sie jeder beliebigen Partei vermietheten, — trotz- dem genügte das zufällige Ergreifen der einen oder der an- deren Partei, um ein tödlicher Feind der entgegengesetzten zu werden. Unzählige Familienzwiste früherer Zeiten trugen, wenn sie mehrere Generationen hindurch gewährt hatten, keinen anderen Charakter; das Objekt des Streites war oft längst verschwunden; aber die Thatsache, daſs man der einen oder der anderen Familie angehörte, gab jedem eine Partei- stellung des schärfsten Gegensatzes gegen die andere. Als im 14. und 15. Jahrhundert die Tyrannieen in Italien aufkamen und dadurch das politische Parteileben überhaupt jede Be- deutung verlor, dauerten dennoch die Kämpfe zwischen Guelfen und Ghibellinen weiter fort, aber ohne irgendeinen Inhalt: der Parteigegensatz als solcher hatte eine Bedeutung gewonnen, die nach seinem Sinne gar nicht mehr fragte. Kurz, die Differenzierung, die in der Parteiung liegt, entwickelt Kräfte,

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/135>, abgerufen am 23.11.2024.