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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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der Religion, an welche letztere sich manche Menschen des-
halb gebunden fühlen, weil alte psychologische Gewohnheit
ihre sittlichen Impulse stets an religiöse knüpfte; da bringt
denn erst die Erfahrung, dass auch religiös ganz anders ge-
sinnte Menschen in ganz gleichem Masse sittlich sind, die Be-
freiung von jener Zentralisierung des ethischen Lebens und
die Verselbständigung des letzteren mit sich. So musste die
wachsende Differenzierung der Berufe dem Individuum zeigen,
wie die ganz gleiche Richtung anderweitiger Lebensinhalte
mit differenten Berufen verknüpft sein kann und also vom
Beruf überhaupt in erheblicherem Masse unabhängig sein muss.
Und zu derselben Folge führt die gleichfalls mit der Kultur-
bewegung vorschreitende Differenzierung jener anderen Lebens-
inhalte. Die Verschiedenheit des Berufs bei Gleichheit der
übrigen Interessen und die Verschiedenheit dieser bei Gleich-
heit des Berufs musste in gleicher Weise zu der psychologi-
schen und realen Loslösung des einen vom andern führen.
Sehen wir auf den Fortschritt von der Differenzierung und
Zusammenfassung nach äusserlichen schematischen Gesichts-
punkten zu der nach sachlicher Zusammengehörigkeit, so zeigt
sich dazu eine entschiedene Analogie auf theoretischem Ge-
biet: man glaubte früher durch das Zusammenfassen grösserer
Gruppen der Lebewesen nach den Symptomen äusserer Ver-
wandtschaft die hauptsächlichen Aufgaben des Erkennens
jenen gegenüber lösen zu können; aber zu tieferer und rich-
tigerer Einsicht gelangte man doch erst dadurch, dass man
an scheinbar sehr verschiedenen Wesen, die man unter ent-
sprechend verschiedene Artbegriffe gebracht hatte, morpho-
logische und physiologische Gleichheiten entdeckte und so
zu Gesetzen des organischen Lebens kam, die an weit von
einander abstehenden Punkten der Reihe der organischen
Wesen realisiert waren und deren Erkenntnis eine Vereinheit-
lichung dessen zuwege brachte, was man früher äusserlichen
Kriterien nach in Artbegriffe von völlig selbständiger Genesis
verteilt hatte. Auch hier bezeichnet die Vereinigung des
sachlich Homogenen aus heterogenen Kreisen die höhere Ent-
wicklungsstufe.

Wenn so der Sieg des rational sachlichen Prinzips über
das oberflächlich schematische mit dem allgemeinen Kultur-
fortschritt Hand in Hand geht, so kann dieser Zusammenhang,
da er kein apriorischer ist, doch unter Umständen durch-
reissen. Die Solidarität der Familie erscheint zwar gegenüber
der Verbindung nach sachlichen Gesichtspunkten als ein
mechanisch äusserliches Prinzip, andererseits dennoch als ein
sachlich begründetes, wenn man es gegenüber einer rein nu-
merischen Einteilung betrachtet, wie sie die Zehntschaften
und Hundertschaften im alten Peru, in China und in einem
grossen Teile des älteren Europa zeigen. Während die social-

Forschungen (42) X 1. -- Simmel. 8

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der Religion, an welche letztere sich manche Menschen des-
halb gebunden fühlen, weil alte psychologische Gewohnheit
ihre sittlichen Impulse stets an religiöse knüpfte; da bringt
denn erst die Erfahrung, daſs auch religiös ganz anders ge-
sinnte Menschen in ganz gleichem Maſse sittlich sind, die Be-
freiung von jener Zentralisierung des ethischen Lebens und
die Verselbständigung des letzteren mit sich. So muſste die
wachsende Differenzierung der Berufe dem Individuum zeigen,
wie die ganz gleiche Richtung anderweitiger Lebensinhalte
mit differenten Berufen verknüpft sein kann und also vom
Beruf überhaupt in erheblicherem Maſse unabhängig sein muſs.
Und zu derselben Folge führt die gleichfalls mit der Kultur-
bewegung vorschreitende Differenzierung jener anderen Lebens-
inhalte. Die Verschiedenheit des Berufs bei Gleichheit der
übrigen Interessen und die Verschiedenheit dieser bei Gleich-
heit des Berufs muſste in gleicher Weise zu der psychologi-
schen und realen Loslösung des einen vom andern führen.
Sehen wir auf den Fortschritt von der Differenzierung und
Zusammenfassung nach äuſserlichen schematischen Gesichts-
punkten zu der nach sachlicher Zusammengehörigkeit, so zeigt
sich dazu eine entschiedene Analogie auf theoretischem Ge-
biet: man glaubte früher durch das Zusammenfassen gröſserer
Gruppen der Lebewesen nach den Symptomen äuſserer Ver-
wandtschaft die hauptsächlichen Aufgaben des Erkennens
jenen gegenüber lösen zu können; aber zu tieferer und rich-
tigerer Einsicht gelangte man doch erst dadurch, daſs man
an scheinbar sehr verschiedenen Wesen, die man unter ent-
sprechend verschiedene Artbegriffe gebracht hatte, morpho-
logische und physiologische Gleichheiten entdeckte und so
zu Gesetzen des organischen Lebens kam, die an weit von
einander abstehenden Punkten der Reihe der organischen
Wesen realisiert waren und deren Erkenntnis eine Vereinheit-
lichung dessen zuwege brachte, was man früher äuſserlichen
Kriterien nach in Artbegriffe von völlig selbständiger Genesis
verteilt hatte. Auch hier bezeichnet die Vereinigung des
sachlich Homogenen aus heterogenen Kreisen die höhere Ent-
wicklungsstufe.

Wenn so der Sieg des rational sachlichen Prinzips über
das oberflächlich schematische mit dem allgemeinen Kultur-
fortschritt Hand in Hand geht, so kann dieser Zusammenhang,
da er kein apriorischer ist, doch unter Umständen durch-
reiſsen. Die Solidarität der Familie erscheint zwar gegenüber
der Verbindung nach sachlichen Gesichtspunkten als ein
mechanisch äuſserliches Prinzip, andererseits dennoch als ein
sachlich begründetes, wenn man es gegenüber einer rein nu-
merischen Einteilung betrachtet, wie sie die Zehntschaften
und Hundertschaften im alten Peru, in China und in einem
groſsen Teile des älteren Europa zeigen. Während die social-

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[113/0127] X 1. der Religion, an welche letztere sich manche Menschen des- halb gebunden fühlen, weil alte psychologische Gewohnheit ihre sittlichen Impulse stets an religiöse knüpfte; da bringt denn erst die Erfahrung, daſs auch religiös ganz anders ge- sinnte Menschen in ganz gleichem Maſse sittlich sind, die Be- freiung von jener Zentralisierung des ethischen Lebens und die Verselbständigung des letzteren mit sich. So muſste die wachsende Differenzierung der Berufe dem Individuum zeigen, wie die ganz gleiche Richtung anderweitiger Lebensinhalte mit differenten Berufen verknüpft sein kann und also vom Beruf überhaupt in erheblicherem Maſse unabhängig sein muſs. Und zu derselben Folge führt die gleichfalls mit der Kultur- bewegung vorschreitende Differenzierung jener anderen Lebens- inhalte. Die Verschiedenheit des Berufs bei Gleichheit der übrigen Interessen und die Verschiedenheit dieser bei Gleich- heit des Berufs muſste in gleicher Weise zu der psychologi- schen und realen Loslösung des einen vom andern führen. Sehen wir auf den Fortschritt von der Differenzierung und Zusammenfassung nach äuſserlichen schematischen Gesichts- punkten zu der nach sachlicher Zusammengehörigkeit, so zeigt sich dazu eine entschiedene Analogie auf theoretischem Ge- biet: man glaubte früher durch das Zusammenfassen gröſserer Gruppen der Lebewesen nach den Symptomen äuſserer Ver- wandtschaft die hauptsächlichen Aufgaben des Erkennens jenen gegenüber lösen zu können; aber zu tieferer und rich- tigerer Einsicht gelangte man doch erst dadurch, daſs man an scheinbar sehr verschiedenen Wesen, die man unter ent- sprechend verschiedene Artbegriffe gebracht hatte, morpho- logische und physiologische Gleichheiten entdeckte und so zu Gesetzen des organischen Lebens kam, die an weit von einander abstehenden Punkten der Reihe der organischen Wesen realisiert waren und deren Erkenntnis eine Vereinheit- lichung dessen zuwege brachte, was man früher äuſserlichen Kriterien nach in Artbegriffe von völlig selbständiger Genesis verteilt hatte. Auch hier bezeichnet die Vereinigung des sachlich Homogenen aus heterogenen Kreisen die höhere Ent- wicklungsstufe. Wenn so der Sieg des rational sachlichen Prinzips über das oberflächlich schematische mit dem allgemeinen Kultur- fortschritt Hand in Hand geht, so kann dieser Zusammenhang, da er kein apriorischer ist, doch unter Umständen durch- reiſsen. Die Solidarität der Familie erscheint zwar gegenüber der Verbindung nach sachlichen Gesichtspunkten als ein mechanisch äuſserliches Prinzip, andererseits dennoch als ein sachlich begründetes, wenn man es gegenüber einer rein nu- merischen Einteilung betrachtet, wie sie die Zehntschaften und Hundertschaften im alten Peru, in China und in einem groſsen Teile des älteren Europa zeigen. Während die social- Forschungen (42) X 1. — Simmel. 8

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/127>, abgerufen am 24.11.2024.