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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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X 1.
dieser unzweckmässigen Verteilung kollektivistischen Zwanges
und individualistischer Willkür tritt eine angemessenere und
gerechtere da ein, wo der sachliche Inhalt der Sitten und
Tendenzen der Personen über die associative Gestaltung ent-
scheidet, weil sich dann auch für ihre bis dahin ganz un-
kontrollierten und rein individualistisch bestimmten Bethäti-
gungen leichter kollektivistische Anlehnungen finden werden;
denn in demselben Masse, in dem die Persönlichkeit als
Ganzes befreit wird, sucht sie auch für ihre einzelnen Seiten
socialen Zusammenschluss und beschränkt freiwillig die indivi-
dualistische Willkür, in der sie sonst einen Ersatz für die
undifferenzierte Fesselung an eine Kollektivmacht findet; so
sehen wir z. B. in Ländern mit grosser politischer Freiheit
ein besonders stark ausgebildetes Vereinsleben, in religiösen
Gemeinschaften ohne starke hierarchisch ausgeübte Kirchen-
gewalt eine lebhafte Sektenbildung u. s. w. Mit einem Wort,
Freiheit und Bindung verteilen sich gleichmässiger, wenn die
Socialisierung, statt die heterogenen Bestandteile der Persön-
lichkeit in einen einheitlichen Kreis zu zwingen, vielmehr die
Möglichkeit gewährt, dass das Homogene aus heterogenen
Kreisen sich zusammenschliesst.

Dies ist einer der wichtigsten Wege, den fortschreitende
Entwicklung einschlägt: die Differenzierung und Arbeits-
teilung ist zuerst sozusagen quantitativer Natur und verteilt
die Thätigkeitskreise derart, dass zwar einem Individuum oder
einer Gruppe ein anderer als einer andern zukommt, aber
jeder derselben eine Summe qualitativ verschiedener Be-
ziehungen einschliesst; allein später wird dieses Verschiedene
herausdifferenziert und aus allen diesen Kreisen zu einem
nun qualitativ einheitlichen Thätigkeitskreise zusammenge-
schlossen. Die Staatsverwaltung entwickelt sich häufig so, dass
das zuerst ganz undifferenzierte Verwaltungszentrum eine
Reihe von Gebieten aussondert, welche je einer einzelnen Be-
hörde oder Persönlichkeit unterstehen. Aber diese Gebiete
sind zunächst lokaler Natur; es ist also z. B. ein Intendant
von seiten des französischen Staatsrats in eine Provinz geschickt,
um nun dort alle die verschiedenen Funktionen auszuüben,
die sonst der Staatsrat selbst über das Ganze des Landes übt;
es ist eine Teilung nach dem Quantum der Arbeit. Davon
unterscheidet sich die später hervorgehende Teilung der
Funktionen, wenn sich dann z. B. aus dem Staatsrat die ver-
schiedenen Ministerien herausbilden, deren jedes seine Thätig-
keit über das ganze Land, aber nur in einer qualitativ be-
stimmten Beziehung erstreckt. Wenn die Specialisierung der
Heilkunst schon im alten Aegypten für den Arm einen andern
Arzt ausbildete, als für das Bein, so war auch dies eine
Differenzierung nach lokalen Gesichtspunkten, der gegenüber
die moderne Medizin gleiche pathologische Zustände, gleich-

X 1.
dieser unzweckmäſsigen Verteilung kollektivistischen Zwanges
und individualistischer Willkür tritt eine angemessenere und
gerechtere da ein, wo der sachliche Inhalt der Sitten und
Tendenzen der Personen über die associative Gestaltung ent-
scheidet, weil sich dann auch für ihre bis dahin ganz un-
kontrollierten und rein individualistisch bestimmten Bethäti-
gungen leichter kollektivistische Anlehnungen finden werden;
denn in demselben Maſse, in dem die Persönlichkeit als
Ganzes befreit wird, sucht sie auch für ihre einzelnen Seiten
socialen Zusammenschluſs und beschränkt freiwillig die indivi-
dualistische Willkür, in der sie sonst einen Ersatz für die
undifferenzierte Fesselung an eine Kollektivmacht findet; so
sehen wir z. B. in Ländern mit groſser politischer Freiheit
ein besonders stark ausgebildetes Vereinsleben, in religiösen
Gemeinschaften ohne starke hierarchisch ausgeübte Kirchen-
gewalt eine lebhafte Sektenbildung u. s. w. Mit einem Wort,
Freiheit und Bindung verteilen sich gleichmäſsiger, wenn die
Socialisierung, statt die heterogenen Bestandteile der Persön-
lichkeit in einen einheitlichen Kreis zu zwingen, vielmehr die
Möglichkeit gewährt, daſs das Homogene aus heterogenen
Kreisen sich zusammenschlieſst.

Dies ist einer der wichtigsten Wege, den fortschreitende
Entwicklung einschlägt: die Differenzierung und Arbeits-
teilung ist zuerst sozusagen quantitativer Natur und verteilt
die Thätigkeitskreise derart, daſs zwar einem Individuum oder
einer Gruppe ein anderer als einer andern zukommt, aber
jeder derselben eine Summe qualitativ verschiedener Be-
ziehungen einschlieſst; allein später wird dieses Verschiedene
herausdifferenziert und aus allen diesen Kreisen zu einem
nun qualitativ einheitlichen Thätigkeitskreise zusammenge-
schlossen. Die Staatsverwaltung entwickelt sich häufig so, daſs
das zuerst ganz undifferenzierte Verwaltungszentrum eine
Reihe von Gebieten aussondert, welche je einer einzelnen Be-
hörde oder Persönlichkeit unterstehen. Aber diese Gebiete
sind zunächst lokaler Natur; es ist also z. B. ein Intendant
von seiten des französischen Staatsrats in eine Provinz geschickt,
um nun dort alle die verschiedenen Funktionen auszuüben,
die sonst der Staatsrat selbst über das Ganze des Landes übt;
es ist eine Teilung nach dem Quantum der Arbeit. Davon
unterscheidet sich die später hervorgehende Teilung der
Funktionen, wenn sich dann z. B. aus dem Staatsrat die ver-
schiedenen Ministerien herausbilden, deren jedes seine Thätig-
keit über das ganze Land, aber nur in einer qualitativ be-
stimmten Beziehung erstreckt. Wenn die Specialisierung der
Heilkunst schon im alten Aegypten für den Arm einen andern
Arzt ausbildete, als für das Bein, so war auch dies eine
Differenzierung nach lokalen Gesichtspunkten, der gegenüber
die moderne Medizin gleiche pathologische Zustände, gleich-

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[108/0122] X 1. dieser unzweckmäſsigen Verteilung kollektivistischen Zwanges und individualistischer Willkür tritt eine angemessenere und gerechtere da ein, wo der sachliche Inhalt der Sitten und Tendenzen der Personen über die associative Gestaltung ent- scheidet, weil sich dann auch für ihre bis dahin ganz un- kontrollierten und rein individualistisch bestimmten Bethäti- gungen leichter kollektivistische Anlehnungen finden werden; denn in demselben Maſse, in dem die Persönlichkeit als Ganzes befreit wird, sucht sie auch für ihre einzelnen Seiten socialen Zusammenschluſs und beschränkt freiwillig die indivi- dualistische Willkür, in der sie sonst einen Ersatz für die undifferenzierte Fesselung an eine Kollektivmacht findet; so sehen wir z. B. in Ländern mit groſser politischer Freiheit ein besonders stark ausgebildetes Vereinsleben, in religiösen Gemeinschaften ohne starke hierarchisch ausgeübte Kirchen- gewalt eine lebhafte Sektenbildung u. s. w. Mit einem Wort, Freiheit und Bindung verteilen sich gleichmäſsiger, wenn die Socialisierung, statt die heterogenen Bestandteile der Persön- lichkeit in einen einheitlichen Kreis zu zwingen, vielmehr die Möglichkeit gewährt, daſs das Homogene aus heterogenen Kreisen sich zusammenschlieſst. Dies ist einer der wichtigsten Wege, den fortschreitende Entwicklung einschlägt: die Differenzierung und Arbeits- teilung ist zuerst sozusagen quantitativer Natur und verteilt die Thätigkeitskreise derart, daſs zwar einem Individuum oder einer Gruppe ein anderer als einer andern zukommt, aber jeder derselben eine Summe qualitativ verschiedener Be- ziehungen einschlieſst; allein später wird dieses Verschiedene herausdifferenziert und aus allen diesen Kreisen zu einem nun qualitativ einheitlichen Thätigkeitskreise zusammenge- schlossen. Die Staatsverwaltung entwickelt sich häufig so, daſs das zuerst ganz undifferenzierte Verwaltungszentrum eine Reihe von Gebieten aussondert, welche je einer einzelnen Be- hörde oder Persönlichkeit unterstehen. Aber diese Gebiete sind zunächst lokaler Natur; es ist also z. B. ein Intendant von seiten des französischen Staatsrats in eine Provinz geschickt, um nun dort alle die verschiedenen Funktionen auszuüben, die sonst der Staatsrat selbst über das Ganze des Landes übt; es ist eine Teilung nach dem Quantum der Arbeit. Davon unterscheidet sich die später hervorgehende Teilung der Funktionen, wenn sich dann z. B. aus dem Staatsrat die ver- schiedenen Ministerien herausbilden, deren jedes seine Thätig- keit über das ganze Land, aber nur in einer qualitativ be- stimmten Beziehung erstreckt. Wenn die Specialisierung der Heilkunst schon im alten Aegypten für den Arm einen andern Arzt ausbildete, als für das Bein, so war auch dies eine Differenzierung nach lokalen Gesichtspunkten, der gegenüber die moderne Medizin gleiche pathologische Zustände, gleich-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/122>, abgerufen am 23.11.2024.