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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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solche an und lässt sie Dritten gegenüber als Einheit er-
scheinen. Andererseits aber befindet sich jeder Kaufmann in
konkurrierendem Gegensatz gegen so und so viele andere,
das Eintreten in diesen Beruf schafft ihm im gleichen Moment
Verbindung und Isolierung, Gleichstellung und Sonderstellung;
er wahrt sein Interesse durch die erbittertste Konkurrenz mit
denjenigen, mit denen er sich doch um des gleichen Interesses
willen oft aufs engste zusammenschliessen muss. Dieser inner-
liche Gegensatz ist zwar auf dem kaufmännischen Gebiet wohl
am krassesten, indes auch auf allen andern bis herab zu der
ephemeren Socialisierung einer Abendgesellschaft irgendwie
vorhanden. Und wenn wir nun bedenken, welche Bedeutung
für die Persönlichkeit das Mass hat, in dem sie Anschluss oder
Gegensatz in ihren socialen Gruppen findet, so thut sich
uns eine unermessliche Möglichkeit von individualisierenden
Kombinationen dadurch auf, dass der Einzelne einer Mannich-
faltigkeit von Kreisen angehört, in denen das Verhältnis von
Konkurrenz und Zusammenschluss stark variiert, und da jedem
Menschen ein gewisses Mass kollektivistischen Bedürfnisses
eigen ist, so ergiebt die Mischung zwischen Kollektivismus
und Isolierung, die jeder Kreis bietet, einen neuen rationalen
Gesichtspunkt für die Zusammenstellung der Kreise, denen
sich der Einzelne anschliesst: wo innerhalb eines Kreises starke
Konkurrenz herrscht, werden die Mitglieder sich gern solche
anderweitigen Kreise suchen, die möglichst konkurrenzlos
sind; so findet sich im Kaufmannsstand eine entschiedene
Vorliebe für gesellige Vereine, während das die Konkurrenz
innerhalb des eigenen Kreises ziemlich ausschliessende Standes-
bewusstsein des Aristokraten ihm derartige Ergänzungen
ziemlich überflüssig macht und ihm vielmehr die Vergesell-
schaftungen näher legt, die in sich stärkere Konkurrenz aus-
bilden, z. B. alle durch Sportinteressen zusammengehaltenen.
Endlich erwähne ich hier noch drittens die oft diskrepanten
dadurch entstehenden Kreuzungen, dass ein Einzelner oder
eine Gruppe von Interessen beherrscht werden, die einander
entgegengesetzt sind und jene deshalb zu gleicher Zeit ganz
entgegengesetzten Parteien angehören lassen. Für Individuen
liegt ein solches Verhalten dann nahe, wenn bei vielseitig
ausgebildeter Kultur ein starkes politisches Parteileben herrscht;
dann pflegt nämlich die Erscheinung einzutreten, dass die po-
litischen Parteien die verschiedenen Standpunkte auch in den-
jenigen Fragen, die mit der Politik gar nichts zu thun haben,
unter sich verteilen, sodass eine bestimmte Tendenz der
Litteratur, der Kunst, der Religiosität etc. mit der einen
Partei, die entgegengesetzte mit der andern associiert wird;
die Linie, die die Parteien sondert, wird schliesslich durch die
Gesamtheit der Lebensinteressen hindurch verlängert. Da
liegt es denn auf der Hand, dass der Einzelne, der sich nicht

X 1.
solche an und lässt sie Dritten gegenüber als Einheit er-
scheinen. Andererseits aber befindet sich jeder Kaufmann in
konkurrierendem Gegensatz gegen so und so viele andere,
das Eintreten in diesen Beruf schafft ihm im gleichen Moment
Verbindung und Isolierung, Gleichstellung und Sonderstellung;
er wahrt sein Interesse durch die erbittertste Konkurrenz mit
denjenigen, mit denen er sich doch um des gleichen Interesses
willen oft aufs engste zusammenschliessen muſs. Dieser inner-
liche Gegensatz ist zwar auf dem kaufmännischen Gebiet wohl
am krassesten, indes auch auf allen andern bis herab zu der
ephemeren Socialisierung einer Abendgesellschaft irgendwie
vorhanden. Und wenn wir nun bedenken, welche Bedeutung
für die Persönlichkeit das Maſs hat, in dem sie Anschluſs oder
Gegensatz in ihren socialen Gruppen findet, so thut sich
uns eine unermeſsliche Möglichkeit von individualisierenden
Kombinationen dadurch auf, daſs der Einzelne einer Mannich-
faltigkeit von Kreisen angehört, in denen das Verhältnis von
Konkurrenz und Zusammenschluſs stark variiert, und da jedem
Menschen ein gewisses Maſs kollektivistischen Bedürfnisses
eigen ist, so ergiebt die Mischung zwischen Kollektivismus
und Isolierung, die jeder Kreis bietet, einen neuen rationalen
Gesichtspunkt für die Zusammenstellung der Kreise, denen
sich der Einzelne anschlieſst: wo innerhalb eines Kreises starke
Konkurrenz herrscht, werden die Mitglieder sich gern solche
anderweitigen Kreise suchen, die möglichst konkurrenzlos
sind; so findet sich im Kaufmannsstand eine entschiedene
Vorliebe für gesellige Vereine, während das die Konkurrenz
innerhalb des eigenen Kreises ziemlich ausschlieſsende Standes-
bewuſstsein des Aristokraten ihm derartige Ergänzungen
ziemlich überflüssig macht und ihm vielmehr die Vergesell-
schaftungen näher legt, die in sich stärkere Konkurrenz aus-
bilden, z. B. alle durch Sportinteressen zusammengehaltenen.
Endlich erwähne ich hier noch drittens die oft diskrepanten
dadurch entstehenden Kreuzungen, daſs ein Einzelner oder
eine Gruppe von Interessen beherrscht werden, die einander
entgegengesetzt sind und jene deshalb zu gleicher Zeit ganz
entgegengesetzten Parteien angehören lassen. Für Individuen
liegt ein solches Verhalten dann nahe, wenn bei vielseitig
ausgebildeter Kultur ein starkes politisches Parteileben herrscht;
dann pflegt nämlich die Erscheinung einzutreten, daſs die po-
litischen Parteien die verschiedenen Standpunkte auch in den-
jenigen Fragen, die mit der Politik gar nichts zu thun haben,
unter sich verteilen, sodaſs eine bestimmte Tendenz der
Litteratur, der Kunst, der Religiosität etc. mit der einen
Partei, die entgegengesetzte mit der andern associiert wird;
die Linie, die die Parteien sondert, wird schlieſslich durch die
Gesamtheit der Lebensinteressen hindurch verlängert. Da
liegt es denn auf der Hand, daſs der Einzelne, der sich nicht

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[105/0119] X 1. solche an und lässt sie Dritten gegenüber als Einheit er- scheinen. Andererseits aber befindet sich jeder Kaufmann in konkurrierendem Gegensatz gegen so und so viele andere, das Eintreten in diesen Beruf schafft ihm im gleichen Moment Verbindung und Isolierung, Gleichstellung und Sonderstellung; er wahrt sein Interesse durch die erbittertste Konkurrenz mit denjenigen, mit denen er sich doch um des gleichen Interesses willen oft aufs engste zusammenschliessen muſs. Dieser inner- liche Gegensatz ist zwar auf dem kaufmännischen Gebiet wohl am krassesten, indes auch auf allen andern bis herab zu der ephemeren Socialisierung einer Abendgesellschaft irgendwie vorhanden. Und wenn wir nun bedenken, welche Bedeutung für die Persönlichkeit das Maſs hat, in dem sie Anschluſs oder Gegensatz in ihren socialen Gruppen findet, so thut sich uns eine unermeſsliche Möglichkeit von individualisierenden Kombinationen dadurch auf, daſs der Einzelne einer Mannich- faltigkeit von Kreisen angehört, in denen das Verhältnis von Konkurrenz und Zusammenschluſs stark variiert, und da jedem Menschen ein gewisses Maſs kollektivistischen Bedürfnisses eigen ist, so ergiebt die Mischung zwischen Kollektivismus und Isolierung, die jeder Kreis bietet, einen neuen rationalen Gesichtspunkt für die Zusammenstellung der Kreise, denen sich der Einzelne anschlieſst: wo innerhalb eines Kreises starke Konkurrenz herrscht, werden die Mitglieder sich gern solche anderweitigen Kreise suchen, die möglichst konkurrenzlos sind; so findet sich im Kaufmannsstand eine entschiedene Vorliebe für gesellige Vereine, während das die Konkurrenz innerhalb des eigenen Kreises ziemlich ausschlieſsende Standes- bewuſstsein des Aristokraten ihm derartige Ergänzungen ziemlich überflüssig macht und ihm vielmehr die Vergesell- schaftungen näher legt, die in sich stärkere Konkurrenz aus- bilden, z. B. alle durch Sportinteressen zusammengehaltenen. Endlich erwähne ich hier noch drittens die oft diskrepanten dadurch entstehenden Kreuzungen, daſs ein Einzelner oder eine Gruppe von Interessen beherrscht werden, die einander entgegengesetzt sind und jene deshalb zu gleicher Zeit ganz entgegengesetzten Parteien angehören lassen. Für Individuen liegt ein solches Verhalten dann nahe, wenn bei vielseitig ausgebildeter Kultur ein starkes politisches Parteileben herrscht; dann pflegt nämlich die Erscheinung einzutreten, daſs die po- litischen Parteien die verschiedenen Standpunkte auch in den- jenigen Fragen, die mit der Politik gar nichts zu thun haben, unter sich verteilen, sodaſs eine bestimmte Tendenz der Litteratur, der Kunst, der Religiosität etc. mit der einen Partei, die entgegengesetzte mit der andern associiert wird; die Linie, die die Parteien sondert, wird schlieſslich durch die Gesamtheit der Lebensinteressen hindurch verlängert. Da liegt es denn auf der Hand, daſs der Einzelne, der sich nicht

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/119>, abgerufen am 23.11.2024.