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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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psychischen Triebe, dem die Gleichheitsforderung der unteren
Stände entspricht, so finden wir ihn nur in demjenigen, der
gerade auch der Ursprung aller Ungleichheit ist, in dem
Triebe nach Glückserhöhung. Und da dieser ins Unendliche
geht, so ist durchaus keine Gewähr dafür gegeben, dass die
Herstellung eines grössten socialen Niveaus im Sinne der
Gleichheit nicht zum blossen Durchgangspunkt für weiter wir-
kende Differenzierung werde. Deshalb muss der Socialismus
zugleich auf ein grösstes sociales Niveau im Sinne des Kollektiv-
besitzes halten, weil hierdurch den Individuen mehr und mehr
die Gelegenheit und der Gegenstand individueller Auszeich-
nung und Differenzierung entzogen wird.

Es ist indes noch immer die Frage, ob nicht die gering-
fügigen Unterschiede des Seins und Habens, die selbst die
gesteigertste Socialisierung nicht beseitigen kann, dieselben
psychologischen und also auch äusseren Folgen haben würden,
wie jetzt die viel grösseren. Denn da es nicht die absolute
Grösse eines Eindrucks oder eines Objekts ist, die unsere
Reaction darauf bestimmt, sondern sein Unterschied gegen
anderweitige Eindrücke, so kann eine gewachsene Unter-
schiedsempfindlichkeit an die verringerten Differenzen unver-
ringerte Folgen knüpfen. Allenthalben findet dieser Prozess
statt. Das Auge passt sich an geringe Helligkeitsgrade derart
an, dass es schliesslich die Farbenunterschiede ebenso empfindet
wie früher nur in viel hellerer Beleuchtung; die geringen
Differenzen in Stellung und Lebensgenuss, die sich innerhalb
des gleichen socialen Kreises finden, erregen einerseits Neid
und Nacheiferung, andererseits Hochmut, kurz alle Folgen der
Differenzierung in demselben Grade, wie die zwischen sehr
getrennten Schichten bestehenden Unterschiede u. s. w. Ja, es
ist sogar vielfach zu beobachten, dass die Empfindung des
Unterschiedes gegen andere Personen um so schärfer ist, je
mehr wir im übrigen mit ihnen gemeinsam haben. Deshalb
sind einerseits diejenigen Folgen der Differenzierung, die dem
Socialismus als schädliche und zu beseitigende erscheinen,
noch keineswegs durch ihn aufgehoben; andererseits aber sind
die Kulturwerte der Differenzierung nicht in dem Masse von
ihm bedroht, wie seine Gegner es wollen; die Anpassung
unserer Unterschiedsempfindlichkeit kann eben den geringeren
persönlichen Differenzen eines socialisierten Zustandes die
gleiche Macht nach der guten wie nach der schlechten Seite
verschaffen, wie die jetzigen sie besitzen.




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psychischen Triebe, dem die Gleichheitsforderung der unteren
Stände entspricht, so finden wir ihn nur in demjenigen, der
gerade auch der Ursprung aller Ungleichheit ist, in dem
Triebe nach Glückserhöhung. Und da dieser ins Unendliche
geht, so ist durchaus keine Gewähr dafür gegeben, daſs die
Herstellung eines gröſsten socialen Niveaus im Sinne der
Gleichheit nicht zum bloſsen Durchgangspunkt für weiter wir-
kende Differenzierung werde. Deshalb muſs der Socialismus
zugleich auf ein gröſstes sociales Niveau im Sinne des Kollektiv-
besitzes halten, weil hierdurch den Individuen mehr und mehr
die Gelegenheit und der Gegenstand individueller Auszeich-
nung und Differenzierung entzogen wird.

Es ist indes noch immer die Frage, ob nicht die gering-
fügigen Unterschiede des Seins und Habens, die selbst die
gesteigertste Socialisierung nicht beseitigen kann, dieselben
psychologischen und also auch äuſseren Folgen haben würden,
wie jetzt die viel gröſseren. Denn da es nicht die absolute
Gröſse eines Eindrucks oder eines Objekts ist, die unsere
Reaction darauf bestimmt, sondern sein Unterschied gegen
anderweitige Eindrücke, so kann eine gewachsene Unter-
schiedsempfindlichkeit an die verringerten Differenzen unver-
ringerte Folgen knüpfen. Allenthalben findet dieser Prozeſs
statt. Das Auge paſst sich an geringe Helligkeitsgrade derart
an, daſs es schlieſslich die Farbenunterschiede ebenso empfindet
wie früher nur in viel hellerer Beleuchtung; die geringen
Differenzen in Stellung und Lebensgenuſs, die sich innerhalb
des gleichen socialen Kreises finden, erregen einerseits Neid
und Nacheiferung, andererseits Hochmut, kurz alle Folgen der
Differenzierung in demselben Grade, wie die zwischen sehr
getrennten Schichten bestehenden Unterschiede u. s. w. Ja, es
ist sogar vielfach zu beobachten, daſs die Empfindung des
Unterschiedes gegen andere Personen um so schärfer ist, je
mehr wir im übrigen mit ihnen gemeinsam haben. Deshalb
sind einerseits diejenigen Folgen der Differenzierung, die dem
Socialismus als schädliche und zu beseitigende erscheinen,
noch keineswegs durch ihn aufgehoben; andererseits aber sind
die Kulturwerte der Differenzierung nicht in dem Maſse von
ihm bedroht, wie seine Gegner es wollen; die Anpassung
unserer Unterschiedsempfindlichkeit kann eben den geringeren
persönlichen Differenzen eines socialisierten Zustandes die
gleiche Macht nach der guten wie nach der schlechten Seite
verschaffen, wie die jetzigen sie besitzen.




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[99/0113] X 1. psychischen Triebe, dem die Gleichheitsforderung der unteren Stände entspricht, so finden wir ihn nur in demjenigen, der gerade auch der Ursprung aller Ungleichheit ist, in dem Triebe nach Glückserhöhung. Und da dieser ins Unendliche geht, so ist durchaus keine Gewähr dafür gegeben, daſs die Herstellung eines gröſsten socialen Niveaus im Sinne der Gleichheit nicht zum bloſsen Durchgangspunkt für weiter wir- kende Differenzierung werde. Deshalb muſs der Socialismus zugleich auf ein gröſstes sociales Niveau im Sinne des Kollektiv- besitzes halten, weil hierdurch den Individuen mehr und mehr die Gelegenheit und der Gegenstand individueller Auszeich- nung und Differenzierung entzogen wird. Es ist indes noch immer die Frage, ob nicht die gering- fügigen Unterschiede des Seins und Habens, die selbst die gesteigertste Socialisierung nicht beseitigen kann, dieselben psychologischen und also auch äuſseren Folgen haben würden, wie jetzt die viel gröſseren. Denn da es nicht die absolute Gröſse eines Eindrucks oder eines Objekts ist, die unsere Reaction darauf bestimmt, sondern sein Unterschied gegen anderweitige Eindrücke, so kann eine gewachsene Unter- schiedsempfindlichkeit an die verringerten Differenzen unver- ringerte Folgen knüpfen. Allenthalben findet dieser Prozeſs statt. Das Auge paſst sich an geringe Helligkeitsgrade derart an, daſs es schlieſslich die Farbenunterschiede ebenso empfindet wie früher nur in viel hellerer Beleuchtung; die geringen Differenzen in Stellung und Lebensgenuſs, die sich innerhalb des gleichen socialen Kreises finden, erregen einerseits Neid und Nacheiferung, andererseits Hochmut, kurz alle Folgen der Differenzierung in demselben Grade, wie die zwischen sehr getrennten Schichten bestehenden Unterschiede u. s. w. Ja, es ist sogar vielfach zu beobachten, daſs die Empfindung des Unterschiedes gegen andere Personen um so schärfer ist, je mehr wir im übrigen mit ihnen gemeinsam haben. Deshalb sind einerseits diejenigen Folgen der Differenzierung, die dem Socialismus als schädliche und zu beseitigende erscheinen, noch keineswegs durch ihn aufgehoben; andererseits aber sind die Kulturwerte der Differenzierung nicht in dem Maſse von ihm bedroht, wie seine Gegner es wollen; die Anpassung unserer Unterschiedsempfindlichkeit kann eben den geringeren persönlichen Differenzen eines socialisierten Zustandes die gleiche Macht nach der guten wie nach der schlechten Seite verschaffen, wie die jetzigen sie besitzen. 7*

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/113>, abgerufen am 27.11.2024.