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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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X 1.
Dame: "Ja, gnädige Frau, jetzt wird alles gleich werden:
ich werde in Seide gehen und Sie werden Kohlen tragen" --
eine Äusserung, deren historische Zuverlässigkeit gleichgültig
ist gegenüber ihrer innern psychologischen Wahrheit.

Diese Genesis des Socialismus bedeutete freilich den
denkbar schärfsten Gegensatz gegen die meisten theoretischen
Begründungen desselben. Für diese ist die Gleichheit der
Menschen ein durch sich selbst gerechtfertigtes, für sich be-
stehendes und befriedigendes Ideal, eine ethische causa sui,
ein Zustand, dessen Wert unmittelbar einleuchtet. Ist er statt
dessen nur ein Durchgangspunkt, nur das zunächst erreich-
bare Ziel der Pleonexie der Massen, so verliert er den kate-
gorischen und idealen Charakter, den er nur deshalb ange-
nommen hat, weil den meisten Menschen derjenige Punkt
ihres Weges, den sie zunächst erreichen müssen, so lange er
noch nicht erreicht ist, als ihr definitives Ziel vorschwebt.
Es ist durchaus kein anderes Interesse, aus dem der Niedrig-
stehende die Gleichheit durchsetzen will, als es der Höhere
an der Erhaltung der Ungleichheit hat; wenn diese Forderung
indes durch langen Bestand ihren relativen Charakter ver-
loren und sich verselbständigt hat, so kann sie auch zum
Ideal solcher Personen werden, bei denen sie jene Genesis
subjektiv nicht durchgemacht hat. Die Behauptung eines logi-
schen Rechtes der Gleichheitsforderung -- als folgte es ana-
lytisch aus der Wesensgleichheit der Menschen, dass auch ihre
Rechte, Pflichten und Güter jeder Art gleich sein müssten --
hat nur den alleroberflächlichsten Schein für sich; denn erstens
geht aus einem wirklichen Verhalten nie vermöge der blossen
Logik ein bloss Gesolltes, nie vermöge dieser aus einer Realität
ein Ideal hervor, sondern es bedarf dazu stets eines Willens,
der sich aus dem blossen logisch theoretischen Denken nie
ergiebt; zweitens giebt es insbesondere keine logische Regel,
nach der die substantielle Gleichheit von Wesen ihre funk-
tionelle Gleichheit zur Folge haben müsste. Drittens ist aber
auch die Gleichheit der Menschen als solcher eine sehr be-
dingte, und es ist völlig willkürlich, über demjenigen, worin
sie gleich sind, ihre vielfachen Verschiedenheiten zu vernach-
lässigen und an den blossen Begriff Mensch, unter dem wir
so verschiedenartige Erscheinungen zusammenfassen, der-
artig reale Folgen knüpfen zu wollen -- ein Überbleibsel
des Begriffsrealismus der Naturauffassung, der statt des
spezifischen Inhalts der einzelnen Erscheinung nur den All-
gemeinbegriff, dem sie zugehörte, ihr Wesen ausmachen liess.
Die ganze Vorstellung von dem selbstverständlichen Rechte
der Gleichheitsforderung ist nur ein Beispiel für die Neigung
des menschlichen Geistes, die Resultate historischer Prozesse,
wenn sie nur hinreichend lange bestanden haben, als logische
Notwendigkeiten anzusehen. Suchen wir aber nach dem

X 1.
Dame: „Ja, gnädige Frau, jetzt wird alles gleich werden:
ich werde in Seide gehen und Sie werden Kohlen tragen“ —
eine Äuſserung, deren historische Zuverlässigkeit gleichgültig
ist gegenüber ihrer innern psychologischen Wahrheit.

Diese Genesis des Socialismus bedeutete freilich den
denkbar schärfsten Gegensatz gegen die meisten theoretischen
Begründungen desselben. Für diese ist die Gleichheit der
Menschen ein durch sich selbst gerechtfertigtes, für sich be-
stehendes und befriedigendes Ideal, eine ethische causa sui,
ein Zustand, dessen Wert unmittelbar einleuchtet. Ist er statt
dessen nur ein Durchgangspunkt, nur das zunächst erreich-
bare Ziel der Pleonexie der Massen, so verliert er den kate-
gorischen und idealen Charakter, den er nur deshalb ange-
nommen hat, weil den meisten Menschen derjenige Punkt
ihres Weges, den sie zunächst erreichen müssen, so lange er
noch nicht erreicht ist, als ihr definitives Ziel vorschwebt.
Es ist durchaus kein anderes Interesse, aus dem der Niedrig-
stehende die Gleichheit durchsetzen will, als es der Höhere
an der Erhaltung der Ungleichheit hat; wenn diese Forderung
indes durch langen Bestand ihren relativen Charakter ver-
loren und sich verselbständigt hat, so kann sie auch zum
Ideal solcher Personen werden, bei denen sie jene Genesis
subjektiv nicht durchgemacht hat. Die Behauptung eines logi-
schen Rechtes der Gleichheitsforderung — als folgte es ana-
lytisch aus der Wesensgleichheit der Menschen, daſs auch ihre
Rechte, Pflichten und Güter jeder Art gleich sein müſsten —
hat nur den alleroberflächlichsten Schein für sich; denn erstens
geht aus einem wirklichen Verhalten nie vermöge der bloſsen
Logik ein bloſs Gesolltes, nie vermöge dieser aus einer Realität
ein Ideal hervor, sondern es bedarf dazu stets eines Willens,
der sich aus dem bloſsen logisch theoretischen Denken nie
ergiebt; zweitens giebt es insbesondere keine logische Regel,
nach der die substantielle Gleichheit von Wesen ihre funk-
tionelle Gleichheit zur Folge haben müſste. Drittens ist aber
auch die Gleichheit der Menschen als solcher eine sehr be-
dingte, und es ist völlig willkürlich, über demjenigen, worin
sie gleich sind, ihre vielfachen Verschiedenheiten zu vernach-
lässigen und an den bloſsen Begriff Mensch, unter dem wir
so verschiedenartige Erscheinungen zusammenfassen, der-
artig reale Folgen knüpfen zu wollen — ein Überbleibsel
des Begriffsrealismus der Naturauffassung, der statt des
spezifischen Inhalts der einzelnen Erscheinung nur den All-
gemeinbegriff, dem sie zugehörte, ihr Wesen ausmachen lieſs.
Die ganze Vorstellung von dem selbstverständlichen Rechte
der Gleichheitsforderung ist nur ein Beispiel für die Neigung
des menschlichen Geistes, die Resultate historischer Prozesse,
wenn sie nur hinreichend lange bestanden haben, als logische
Notwendigkeiten anzusehen. Suchen wir aber nach dem

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[98/0112] X 1. Dame: „Ja, gnädige Frau, jetzt wird alles gleich werden: ich werde in Seide gehen und Sie werden Kohlen tragen“ — eine Äuſserung, deren historische Zuverlässigkeit gleichgültig ist gegenüber ihrer innern psychologischen Wahrheit. Diese Genesis des Socialismus bedeutete freilich den denkbar schärfsten Gegensatz gegen die meisten theoretischen Begründungen desselben. Für diese ist die Gleichheit der Menschen ein durch sich selbst gerechtfertigtes, für sich be- stehendes und befriedigendes Ideal, eine ethische causa sui, ein Zustand, dessen Wert unmittelbar einleuchtet. Ist er statt dessen nur ein Durchgangspunkt, nur das zunächst erreich- bare Ziel der Pleonexie der Massen, so verliert er den kate- gorischen und idealen Charakter, den er nur deshalb ange- nommen hat, weil den meisten Menschen derjenige Punkt ihres Weges, den sie zunächst erreichen müssen, so lange er noch nicht erreicht ist, als ihr definitives Ziel vorschwebt. Es ist durchaus kein anderes Interesse, aus dem der Niedrig- stehende die Gleichheit durchsetzen will, als es der Höhere an der Erhaltung der Ungleichheit hat; wenn diese Forderung indes durch langen Bestand ihren relativen Charakter ver- loren und sich verselbständigt hat, so kann sie auch zum Ideal solcher Personen werden, bei denen sie jene Genesis subjektiv nicht durchgemacht hat. Die Behauptung eines logi- schen Rechtes der Gleichheitsforderung — als folgte es ana- lytisch aus der Wesensgleichheit der Menschen, daſs auch ihre Rechte, Pflichten und Güter jeder Art gleich sein müſsten — hat nur den alleroberflächlichsten Schein für sich; denn erstens geht aus einem wirklichen Verhalten nie vermöge der bloſsen Logik ein bloſs Gesolltes, nie vermöge dieser aus einer Realität ein Ideal hervor, sondern es bedarf dazu stets eines Willens, der sich aus dem bloſsen logisch theoretischen Denken nie ergiebt; zweitens giebt es insbesondere keine logische Regel, nach der die substantielle Gleichheit von Wesen ihre funk- tionelle Gleichheit zur Folge haben müſste. Drittens ist aber auch die Gleichheit der Menschen als solcher eine sehr be- dingte, und es ist völlig willkürlich, über demjenigen, worin sie gleich sind, ihre vielfachen Verschiedenheiten zu vernach- lässigen und an den bloſsen Begriff Mensch, unter dem wir so verschiedenartige Erscheinungen zusammenfassen, der- artig reale Folgen knüpfen zu wollen — ein Überbleibsel des Begriffsrealismus der Naturauffassung, der statt des spezifischen Inhalts der einzelnen Erscheinung nur den All- gemeinbegriff, dem sie zugehörte, ihr Wesen ausmachen lieſs. Die ganze Vorstellung von dem selbstverständlichen Rechte der Gleichheitsforderung ist nur ein Beispiel für die Neigung des menschlichen Geistes, die Resultate historischer Prozesse, wenn sie nur hinreichend lange bestanden haben, als logische Notwendigkeiten anzusehen. Suchen wir aber nach dem

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/112>, abgerufen am 27.11.2024.