Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. Differenzierung wirklich so absolut entgegengesetzt ist, wie esscheint. Durch die ganze Natur hindurch sehen wir das Streben der Lebewesen, höher zu kommen, über ihre augen- blickliche Stellung hinweg eine günstigere zu erwerben; in der Menschenwelt steigert sich dies zu dem lebhaftesten bewusste Wunsch, mehr zu haben und zu geniessen, als jeder gegebene Augenblick es darbietet, und die Differenzierung ist nichts als das Mittel dazu oder die Folge davon. Nie- mand begnügt sich mit der Stellung, die er seinen Mit- geschöpfen gegenüber einnimmt, sondern jeder will eine in irgendeinem Sinne günstigere erobern, und da die Kräfte und Glücksfälle verschieden sind, so gelingt es Einem, sich über die grosse Mehrzahl der andern mehr oder weniger hoch zu erheben. Wenn nun die unterdrückte Majorität den Wunsch nach erhöhter Lebenshaltung weiter empfindet, so wird der nächstliegende Ausdruck dafür sein, dass sie dasselbe haben und sein will, wie die obern Zehntausend. Die Gleichheit mit den Höheren ist der erste sich darbietende Inhalt, mit dem sich der Trieb eigener Erhöhung erfüllt, wie es sich in jedem beliebigen engeren Kreise zeigt, mag es eine Schul- klasse, ein Kaufmannsstand, eine Beamtenhierarchie sein. Das gehört zu den Gründen der Thatsache, dass der Groll des Proletariers sich meistens nicht gegen die höchsten Stände, sondern gegen den Bourgeois wendet; denn diesen sieht er unmittelbar über sich, er bezeichnet für ihn diejenige Staffel der Glücksleiter, die er zunächst zu ersteigen hat, und auf die sich deshalb für den Augenblick sein Bewusstsein und sein Wunsch nach Erhöhung konzentriert. Der Niedere will zunächst dem Höheren gleich sein; ist er ihm aber gleich, so zeigt tausendfache Erfahrung, dass dieser Zustand, früher der Inbegriff seines Strebens, nichts weiter als der Ausgangs- punkt für weiteres ist, nur die erste Station des ins Unend- liche gehenden Weges zur begünstigtsten Stellung. Überall, wo man die Gleichmachung zu verwirklichen suchte, hat sich von diesem neuen Boden aus das Streben des Einzelnen, die Andern zu überflügeln, in jeder möglichen Weise geltend ge- macht; so z. B. in der häufigen Thatsache, dass sich über dem vollzogenen socialen Nivellement die Tyrannis erhebt. In Frankreich, wo von der grossen Revolution her die Gleich- heitsideen noch am energischsten wirkten, und wo die Juli- revolution diese Traditionen wieder aufgefrischt hatte, tauchte doch kurz nach der letzteren neben der schamlosen Pleonexie Einzelner eine allgemeine Ordenssucht auf, ein unstillbares Verlangen, sich durch ein Bändchen im Knopfloch vor der grossen Menge auszuzeichnen. Und es giebt vielleicht keinen treffenderen Beweis für unsere Vermutung über den psycho- logischen Ursprung der Gleichheitsidee, als die Äusserung einer Kohlenträgerin aus dem Jahre 1848 zu einer vornehmen Forschungen (42) X. 1. -- Simmel. 7
X 1. Differenzierung wirklich so absolut entgegengesetzt ist, wie esscheint. Durch die ganze Natur hindurch sehen wir das Streben der Lebewesen, höher zu kommen, über ihre augen- blickliche Stellung hinweg eine günstigere zu erwerben; in der Menschenwelt steigert sich dies zu dem lebhaftesten bewuſste Wunsch, mehr zu haben und zu genieſsen, als jeder gegebene Augenblick es darbietet, und die Differenzierung ist nichts als das Mittel dazu oder die Folge davon. Nie- mand begnügt sich mit der Stellung, die er seinen Mit- geschöpfen gegenüber einnimmt, sondern jeder will eine in irgendeinem Sinne günstigere erobern, und da die Kräfte und Glücksfälle verschieden sind, so gelingt es Einem, sich über die groſse Mehrzahl der andern mehr oder weniger hoch zu erheben. Wenn nun die unterdrückte Majorität den Wunsch nach erhöhter Lebenshaltung weiter empfindet, so wird der nächstliegende Ausdruck dafür sein, daſs sie dasselbe haben und sein will, wie die obern Zehntausend. Die Gleichheit mit den Höheren ist der erste sich darbietende Inhalt, mit dem sich der Trieb eigener Erhöhung erfüllt, wie es sich in jedem beliebigen engeren Kreise zeigt, mag es eine Schul- klasse, ein Kaufmannsstand, eine Beamtenhierarchie sein. Das gehört zu den Gründen der Thatsache, daſs der Groll des Proletariers sich meistens nicht gegen die höchsten Stände, sondern gegen den Bourgeois wendet; denn diesen sieht er unmittelbar über sich, er bezeichnet für ihn diejenige Staffel der Glücksleiter, die er zunächst zu ersteigen hat, und auf die sich deshalb für den Augenblick sein Bewuſstsein und sein Wunsch nach Erhöhung konzentriert. Der Niedere will zunächst dem Höheren gleich sein; ist er ihm aber gleich, so zeigt tausendfache Erfahrung, daſs dieser Zustand, früher der Inbegriff seines Strebens, nichts weiter als der Ausgangs- punkt für weiteres ist, nur die erste Station des ins Unend- liche gehenden Weges zur begünstigtsten Stellung. Überall, wo man die Gleichmachung zu verwirklichen suchte, hat sich von diesem neuen Boden aus das Streben des Einzelnen, die Andern zu überflügeln, in jeder möglichen Weise geltend ge- macht; so z. B. in der häufigen Thatsache, daſs sich über dem vollzogenen socialen Nivellement die Tyrannis erhebt. In Frankreich, wo von der groſsen Revolution her die Gleich- heitsideen noch am energischsten wirkten, und wo die Juli- revolution diese Traditionen wieder aufgefrischt hatte, tauchte doch kurz nach der letzteren neben der schamlosen Pleonexie Einzelner eine allgemeine Ordenssucht auf, ein unstillbares Verlangen, sich durch ein Bändchen im Knopfloch vor der groſsen Menge auszuzeichnen. Und es giebt vielleicht keinen treffenderen Beweis für unsere Vermutung über den psycho- logischen Ursprung der Gleichheitsidee, als die Äuſserung einer Kohlenträgerin aus dem Jahre 1848 zu einer vornehmen Forschungen (42) X. 1. — Simmel. 7
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X 1.
Differenzierung wirklich so absolut entgegengesetzt ist, wie es
scheint. Durch die ganze Natur hindurch sehen wir das
Streben der Lebewesen, höher zu kommen, über ihre augen-
blickliche Stellung hinweg eine günstigere zu erwerben; in
der Menschenwelt steigert sich dies zu dem lebhaftesten
bewuſste Wunsch, mehr zu haben und zu genieſsen, als jeder
gegebene Augenblick es darbietet, und die Differenzierung
ist nichts als das Mittel dazu oder die Folge davon. Nie-
mand begnügt sich mit der Stellung, die er seinen Mit-
geschöpfen gegenüber einnimmt, sondern jeder will eine in
irgendeinem Sinne günstigere erobern, und da die Kräfte und
Glücksfälle verschieden sind, so gelingt es Einem, sich über
die groſse Mehrzahl der andern mehr oder weniger hoch zu
erheben. Wenn nun die unterdrückte Majorität den Wunsch
nach erhöhter Lebenshaltung weiter empfindet, so wird der
nächstliegende Ausdruck dafür sein, daſs sie dasselbe haben
und sein will, wie die obern Zehntausend. Die Gleichheit
mit den Höheren ist der erste sich darbietende Inhalt, mit
dem sich der Trieb eigener Erhöhung erfüllt, wie es sich in
jedem beliebigen engeren Kreise zeigt, mag es eine Schul-
klasse, ein Kaufmannsstand, eine Beamtenhierarchie sein. Das
gehört zu den Gründen der Thatsache, daſs der Groll des
Proletariers sich meistens nicht gegen die höchsten Stände,
sondern gegen den Bourgeois wendet; denn diesen sieht er
unmittelbar über sich, er bezeichnet für ihn diejenige Staffel
der Glücksleiter, die er zunächst zu ersteigen hat, und auf
die sich deshalb für den Augenblick sein Bewuſstsein und
sein Wunsch nach Erhöhung konzentriert. Der Niedere will
zunächst dem Höheren gleich sein; ist er ihm aber gleich,
so zeigt tausendfache Erfahrung, daſs dieser Zustand, früher
der Inbegriff seines Strebens, nichts weiter als der Ausgangs-
punkt für weiteres ist, nur die erste Station des ins Unend-
liche gehenden Weges zur begünstigtsten Stellung. Überall,
wo man die Gleichmachung zu verwirklichen suchte, hat sich
von diesem neuen Boden aus das Streben des Einzelnen, die
Andern zu überflügeln, in jeder möglichen Weise geltend ge-
macht; so z. B. in der häufigen Thatsache, daſs sich über dem
vollzogenen socialen Nivellement die Tyrannis erhebt. In
Frankreich, wo von der groſsen Revolution her die Gleich-
heitsideen noch am energischsten wirkten, und wo die Juli-
revolution diese Traditionen wieder aufgefrischt hatte, tauchte
doch kurz nach der letzteren neben der schamlosen Pleonexie
Einzelner eine allgemeine Ordenssucht auf, ein unstillbares
Verlangen, sich durch ein Bändchen im Knopfloch vor der
groſsen Menge auszuzeichnen. Und es giebt vielleicht keinen
treffenderen Beweis für unsere Vermutung über den psycho-
logischen Ursprung der Gleichheitsidee, als die Äuſserung
einer Kohlenträgerin aus dem Jahre 1848 zu einer vornehmen
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