Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.X 1. wie der Epoche der Genies die der Talente folgt: in dergriechisch-römischen Philosophie, in der Kunst der Renaissance, in der zweiten Blüteperiode der deutschen Dichtung, in der Musikgeschichte dieses Jahrhunderts. Unzählige Male wird uns berichtet, wie Personen, die sich in untergeordneter, un- differenzierter Stellung befanden, bei der Anschauung eines künstlerischen oder technischen Produkts plötzlich die Augen über ihre Fähigkeiten und ihren eigentlichen Beruf aufgingen, und wie sie nun von da aus zu einer individuellen Ausbildung vorgedrungen wären. Je mehr Muster schon vorliegen, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass jede nur einiger- massen besondere Anlage ihre Entfaltung und also eine diffe- renzierte Lebensstellung gewönne. Das sociale Niveau im Sinne des Kollektivbesitzes verringert von diesem Gesichts- punkt aus eben dasselbe im Sinne der Gleichheit des Besitzes. Diese Ungleichmässigkeiten im Verhältnis der socialen Psychologisch ist es mir indessen noch zweifelhaft, ob X 1. wie der Epoche der Genies die der Talente folgt: in dergriechisch-römischen Philosophie, in der Kunst der Renaissance, in der zweiten Blüteperiode der deutschen Dichtung, in der Musikgeschichte dieses Jahrhunderts. Unzählige Male wird uns berichtet, wie Personen, die sich in untergeordneter, un- differenzierter Stellung befanden, bei der Anschauung eines künstlerischen oder technischen Produkts plötzlich die Augen über ihre Fähigkeiten und ihren eigentlichen Beruf aufgingen, und wie sie nun von da aus zu einer individuellen Ausbildung vorgedrungen wären. Je mehr Muster schon vorliegen, desto gröſser ist die Wahrscheinlichkeit, daſs jede nur einiger- maſsen besondere Anlage ihre Entfaltung und also eine diffe- renzierte Lebensstellung gewönne. Das sociale Niveau im Sinne des Kollektivbesitzes verringert von diesem Gesichts- punkt aus eben dasselbe im Sinne der Gleichheit des Besitzes. Diese Ungleichmäſsigkeiten im Verhältnis der socialen Psychologisch ist es mir indessen noch zweifelhaft, ob <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0110" n="96"/><fw place="top" type="header">X 1.</fw><lb/> wie der Epoche der Genies die der Talente folgt: in der<lb/> griechisch-römischen Philosophie, in der Kunst der Renaissance,<lb/> in der zweiten Blüteperiode der deutschen Dichtung, in der<lb/> Musikgeschichte dieses Jahrhunderts. Unzählige Male wird<lb/> uns berichtet, wie Personen, die sich in untergeordneter, un-<lb/> differenzierter Stellung befanden, bei der Anschauung eines<lb/> künstlerischen oder technischen Produkts plötzlich die Augen<lb/> über ihre Fähigkeiten und ihren eigentlichen Beruf aufgingen,<lb/> und wie sie nun von da aus zu einer individuellen Ausbildung<lb/> vorgedrungen wären. 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Um nämlich<lb/> erstens ein Maximum individueller Gleichheit innerhalb einer<lb/> Gruppe herzustellen und namentlich zu erhalten, ist das<lb/> sicherste Mittel, daſs ihr Kollektivbesitz ein möglichst groſser<lb/> ist; wenn jeder Einzelne einen möglichst gleichen Teil seines<lb/> innern und äuſsern Besitzes an die Gesamtheit abgiebt und<lb/> der Besitz dieser dafür groſs genug ist, um ihm ein Maxi-<lb/> mum von Formen und Inhalten zu liefern, so ist dies jeden-<lb/> falls die gröſste Garantie dafür, daſs der eine im wesentlichen<lb/> dasselbe hat und ist wie der andere; und umgekehrt, wenn<lb/> eine maximale Gleichheit der Individuen herrscht und über-<lb/> haupt Socialisierung stattfindet, wird auch der sociale Besitz<lb/> deshalb im Verhältnis zum individuellen ein maximaler werden,<lb/> weil das Prinzip der Kraftersparnis dahin drängt, möglichst<lb/> viele Thätigkeiten an die Allgemeinheit abzugeben — mit<lb/> Ausnahmen, die wir in unserm letzten Kapitel zu behandeln<lb/> haben — und möglichst vielen Anhalt von ihr zu entlehnen,<lb/> während die Verschiedenheit der Individuen, die dieser Ten-<lb/> denz sonst Schranken setzte, der Voraussetzung nach auf-<lb/> gehoben ist. 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X 1.
wie der Epoche der Genies die der Talente folgt: in der
griechisch-römischen Philosophie, in der Kunst der Renaissance,
in der zweiten Blüteperiode der deutschen Dichtung, in der
Musikgeschichte dieses Jahrhunderts. Unzählige Male wird
uns berichtet, wie Personen, die sich in untergeordneter, un-
differenzierter Stellung befanden, bei der Anschauung eines
künstlerischen oder technischen Produkts plötzlich die Augen
über ihre Fähigkeiten und ihren eigentlichen Beruf aufgingen,
und wie sie nun von da aus zu einer individuellen Ausbildung
vorgedrungen wären. Je mehr Muster schon vorliegen, desto
gröſser ist die Wahrscheinlichkeit, daſs jede nur einiger-
maſsen besondere Anlage ihre Entfaltung und also eine diffe-
renzierte Lebensstellung gewönne. Das sociale Niveau im
Sinne des Kollektivbesitzes verringert von diesem Gesichts-
punkt aus eben dasselbe im Sinne der Gleichheit des Besitzes.
Diese Ungleichmäſsigkeiten im Verhältnis der socialen
Niveaus in beiderlei Sinne scheinen indes nur so lange herr-
schen zu können, als beide unter ihren höchsten erreichbaren
Graden bleiben und als es neben der Steigerung derselben
noch andere Zwecke des Individuums und der Allgemeinheit
giebt, die die Entwicklung jener modifizieren und zwar na-
türlich nicht so, daſs beide stets in gleichem Maſse davon
getroffen würden. Das absolute Maximum des einen wird
indes mit dem des andern zusammenfallen. Um nämlich
erstens ein Maximum individueller Gleichheit innerhalb einer
Gruppe herzustellen und namentlich zu erhalten, ist das
sicherste Mittel, daſs ihr Kollektivbesitz ein möglichst groſser
ist; wenn jeder Einzelne einen möglichst gleichen Teil seines
innern und äuſsern Besitzes an die Gesamtheit abgiebt und
der Besitz dieser dafür groſs genug ist, um ihm ein Maxi-
mum von Formen und Inhalten zu liefern, so ist dies jeden-
falls die gröſste Garantie dafür, daſs der eine im wesentlichen
dasselbe hat und ist wie der andere; und umgekehrt, wenn
eine maximale Gleichheit der Individuen herrscht und über-
haupt Socialisierung stattfindet, wird auch der sociale Besitz
deshalb im Verhältnis zum individuellen ein maximaler werden,
weil das Prinzip der Kraftersparnis dahin drängt, möglichst
viele Thätigkeiten an die Allgemeinheit abzugeben — mit
Ausnahmen, die wir in unserm letzten Kapitel zu behandeln
haben — und möglichst vielen Anhalt von ihr zu entlehnen,
während die Verschiedenheit der Individuen, die dieser Ten-
denz sonst Schranken setzte, der Voraussetzung nach auf-
gehoben ist. Der Socialismus hat deshalb die Maximisierung
beider Niveaus gleichmäſsig im Auge; die Gleichheit der Indi-
viduen ist eben nur durch Konkurrenzlosigkeit, diese aber nur
bei Centralisierung aller Wirtschaft durch den Staat zu erreichen.
Psychologisch ist es mir indessen noch zweifelhaft, ob
die Forderung der Ausgleichung der Niveaus dem Triebe der
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