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Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890.

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ohne sie auf die Dauer zu normalen und kräftigen Menschen
machen zu können. In roheren Zeiten und in niedrigeren
Ständen, in die die nur wenigen zugänglichen hygienischen
Mittel noch nicht gedrungen sind, rafft die natürliche Auslese
die schwächlichen Existenzen weg und lässt nur die kräftigen
gross werden. Ausserdem ist aber von vornherein die Wahr-
scheinlichkeit vorhanden, dass unter der grösseren Anzahl von
Teilnehmern auch eine grössere Anzahl hervorragender Na-
turen vorhanden sei, sodass jener Kampf ein günstiges
Material vorfindet und durch energische Verdrängung des
Schwächeren ein immer günstigerer Durchschnitt für die Ge-
samtheit erreicht wird. Durch die ganze Natur geht dieser
Nutzen der grösseren Zahl. Über die Schafe in einem Teile
von Yorkshire sagt ein Kenner, dass, weil sie gewöhnlich
armen Leuten gehören, welche nur wenige besitzen, sie nie
veredelt werden können; andererseits haben Handelsgärtner,
welche dieselben Pflanzen in grossen Massen ziehen, gewöhn-
lich mehr Erfolg als die blossen Liebhaber in Bildung neuer
und wertvoller Varietäten, wie Darwin bemerkt, unter dem
Hinzufügen, dass die verbreiteten und gemeinen Arten grössere
Wahrscheinlichkeit als die selteneren haben, in einer gege-
benen Zeit vorteilhafte Anderungen hervorzubringen. Dieser
Vorgang scheint mir ein bedeutsames Licht auf die organische
Entwicklung überhaupt zu werfen. Nachdem einmal eine
gewisse Art verbreitet und herrschend geworden ist, sondert
sich durch besondere Bedingungen eine Unterart ab, welche,
in weniger Exemplaren vorhanden, eine gewisse Stabilität
zeigt. Treten nun neue Lebensumstände ein, die veränderte
Anpassungen fordern, so wird die auf der früheren Stufe
zurückgebliebene und zahlreichere Art auf Grund der oben
angeführten Vorteile der grossen Zahl eine grössere Wahr-
scheinlichkeit haben, wenigstens teilweise den neuen Anforde-
rungen gemäss zu variieren, als jene schon ausgesonderte,
welche früher vielleicht die besser angepasste war. Wir ver-
stehen daraus, wieso aristokratische Differenzierungen über
das allgemeine Niveau, nachdem sie eine Zeit lang ein höheres
Niveau für sich gebildet, später so oft ihre Lebensfähigkeit
gegenüber jenem tieferen verlieren. Denn dieses hat zunächst
vermöge der überwiegenden Zahl seiner Teilnehmer die grössere
Wahrscheinlichkeit, bei geänderten Verhältnissen führende
Persönlichkeiten hervorzubringen, die jenen besonders gut
angepasst sind; dann aber ist die niedrige Entwicklung, in
der die schärferen Differenzierungen erst im Keime vorhanden
sind, überhaupt für manche Anforderungen die günstigere
Bedingung, weil sie ein weiches, der Formung sich leicht
schmiegendes Material bietet, während scharf umrissene und
individualisierte Formen zwar ihren ursprünglichen Lebens-
bedingungen besser entsprechen, geänderten und entgegen-

X 1.
ohne sie auf die Dauer zu normalen und kräftigen Menschen
machen zu können. In roheren Zeiten und in niedrigeren
Ständen, in die die nur wenigen zugänglichen hygienischen
Mittel noch nicht gedrungen sind, rafft die natürliche Auslese
die schwächlichen Existenzen weg und läſst nur die kräftigen
groſs werden. Auſserdem ist aber von vornherein die Wahr-
scheinlichkeit vorhanden, daſs unter der gröſseren Anzahl von
Teilnehmern auch eine gröſsere Anzahl hervorragender Na-
turen vorhanden sei, sodaſs jener Kampf ein günstiges
Material vorfindet und durch energische Verdrängung des
Schwächeren ein immer günstigerer Durchschnitt für die Ge-
samtheit erreicht wird. Durch die ganze Natur geht dieser
Nutzen der gröſseren Zahl. Über die Schafe in einem Teile
von Yorkshire sagt ein Kenner, daſs, weil sie gewöhnlich
armen Leuten gehören, welche nur wenige besitzen, sie nie
veredelt werden können; andererseits haben Handelsgärtner,
welche dieselben Pflanzen in groſsen Massen ziehen, gewöhn-
lich mehr Erfolg als die bloſsen Liebhaber in Bildung neuer
und wertvoller Varietäten, wie Darwin bemerkt, unter dem
Hinzufügen, daſs die verbreiteten und gemeinen Arten gröſsere
Wahrscheinlichkeit als die selteneren haben, in einer gege-
benen Zeit vorteilhafte Anderungen hervorzubringen. Dieser
Vorgang scheint mir ein bedeutsames Licht auf die organische
Entwicklung überhaupt zu werfen. Nachdem einmal eine
gewisse Art verbreitet und herrschend geworden ist, sondert
sich durch besondere Bedingungen eine Unterart ab, welche,
in weniger Exemplaren vorhanden, eine gewisse Stabilität
zeigt. Treten nun neue Lebensumstände ein, die veränderte
Anpassungen fordern, so wird die auf der früheren Stufe
zurückgebliebene und zahlreichere Art auf Grund der oben
angeführten Vorteile der groſsen Zahl eine gröſsere Wahr-
scheinlichkeit haben, wenigstens teilweise den neuen Anforde-
rungen gemäſs zu variieren, als jene schon ausgesonderte,
welche früher vielleicht die besser angepaſste war. Wir ver-
stehen daraus, wieso aristokratische Differenzierungen über
das allgemeine Niveau, nachdem sie eine Zeit lang ein höheres
Niveau für sich gebildet, später so oft ihre Lebensfähigkeit
gegenüber jenem tieferen verlieren. Denn dieses hat zunächst
vermöge der überwiegenden Zahl seiner Teilnehmer die gröſsere
Wahrscheinlichkeit, bei geänderten Verhältnissen führende
Persönlichkeiten hervorzubringen, die jenen besonders gut
angepaſst sind; dann aber ist die niedrige Entwicklung, in
der die schärferen Differenzierungen erst im Keime vorhanden
sind, überhaupt für manche Anforderungen die günstigere
Bedingung, weil sie ein weiches, der Formung sich leicht
schmiegendes Material bietet, während scharf umrissene und
individualisierte Formen zwar ihren ursprünglichen Lebens-
bedingungen besser entsprechen, geänderten und entgegen-

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[91/0105] X 1. ohne sie auf die Dauer zu normalen und kräftigen Menschen machen zu können. In roheren Zeiten und in niedrigeren Ständen, in die die nur wenigen zugänglichen hygienischen Mittel noch nicht gedrungen sind, rafft die natürliche Auslese die schwächlichen Existenzen weg und läſst nur die kräftigen groſs werden. Auſserdem ist aber von vornherein die Wahr- scheinlichkeit vorhanden, daſs unter der gröſseren Anzahl von Teilnehmern auch eine gröſsere Anzahl hervorragender Na- turen vorhanden sei, sodaſs jener Kampf ein günstiges Material vorfindet und durch energische Verdrängung des Schwächeren ein immer günstigerer Durchschnitt für die Ge- samtheit erreicht wird. Durch die ganze Natur geht dieser Nutzen der gröſseren Zahl. Über die Schafe in einem Teile von Yorkshire sagt ein Kenner, daſs, weil sie gewöhnlich armen Leuten gehören, welche nur wenige besitzen, sie nie veredelt werden können; andererseits haben Handelsgärtner, welche dieselben Pflanzen in groſsen Massen ziehen, gewöhn- lich mehr Erfolg als die bloſsen Liebhaber in Bildung neuer und wertvoller Varietäten, wie Darwin bemerkt, unter dem Hinzufügen, daſs die verbreiteten und gemeinen Arten gröſsere Wahrscheinlichkeit als die selteneren haben, in einer gege- benen Zeit vorteilhafte Anderungen hervorzubringen. Dieser Vorgang scheint mir ein bedeutsames Licht auf die organische Entwicklung überhaupt zu werfen. Nachdem einmal eine gewisse Art verbreitet und herrschend geworden ist, sondert sich durch besondere Bedingungen eine Unterart ab, welche, in weniger Exemplaren vorhanden, eine gewisse Stabilität zeigt. Treten nun neue Lebensumstände ein, die veränderte Anpassungen fordern, so wird die auf der früheren Stufe zurückgebliebene und zahlreichere Art auf Grund der oben angeführten Vorteile der groſsen Zahl eine gröſsere Wahr- scheinlichkeit haben, wenigstens teilweise den neuen Anforde- rungen gemäſs zu variieren, als jene schon ausgesonderte, welche früher vielleicht die besser angepaſste war. Wir ver- stehen daraus, wieso aristokratische Differenzierungen über das allgemeine Niveau, nachdem sie eine Zeit lang ein höheres Niveau für sich gebildet, später so oft ihre Lebensfähigkeit gegenüber jenem tieferen verlieren. Denn dieses hat zunächst vermöge der überwiegenden Zahl seiner Teilnehmer die gröſsere Wahrscheinlichkeit, bei geänderten Verhältnissen führende Persönlichkeiten hervorzubringen, die jenen besonders gut angepaſst sind; dann aber ist die niedrige Entwicklung, in der die schärferen Differenzierungen erst im Keime vorhanden sind, überhaupt für manche Anforderungen die günstigere Bedingung, weil sie ein weiches, der Formung sich leicht schmiegendes Material bietet, während scharf umrissene und individualisierte Formen zwar ihren ursprünglichen Lebens- bedingungen besser entsprechen, geänderten und entgegen-

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Zitationshilfe: Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Leipzig, 1890, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/simmel_differenzierung_1890/105>, abgerufen am 23.11.2024.