lonzowe, die so schöne Wasserfälle hat, daß sie die in Kassel auf dem Winterkasten übertreffen. Denn dort ist durch Kunst manche Unregelmäßigkeit aus dem Wege geräumt, hier aber regiert die roheste Natur.
Auf vorher erwähnten hohen Granitaggregaten war es, wo ich am 14. August Morgens mit Sonnenaufgang eine der göttlichsten Aussichten genoß, die sich denken lassen, eine Aussicht, die eine beredtere Feder als die meinige fordert, um sie nur einigermaßen würdig zu beschreiben. Den Tag vorher hatte es unten sehr fein geregnet, und auf den Alpen geschneyet. Dieses endigte sich aber gegen Mitternacht, und es wurde vollkommen helle. Bey dieser Gelegenheit nun war sehr viel Feuchtigkeit in den Thälern, die alles mit dickem Nebel überzog. Jch aber stand bey weitem höher wie aller Nebel. Nun gieng die Sonne auf, das lezte Mondesviertel und ein reines Firmament über mich. Alle Nebelsäulen, die gegen Ost und Süd hinstanden und die sonderbar- sten beinahe durchsichtigen Figuren bildeten, erhielten von der Sonne die herrlichsten Farben; zwischen diesen ragten hin und wieder die Gebirgrücken mit ihren be- waldeten Koppen hervor. Da sah man einen wunder- lichen großen Granitblock im Nebel schwimmen; denn seinen Berg worauf er ruhte sah man nicht. Hier sah man ein weites Meer, das sanft mit silberfarbenen Wel- len wallte. Gegen Norden waren alle diese Nebel pech- schwarz und schaudervoll; denn die Höhe der Berge und Wolken hinderte, daß die Sonne so früh dort nicht hin- scheinen konnte. Jch stand 2 Stunden wie eine Statue
da
Sievers Briefe
lonzowe, die ſo ſchoͤne Waſſerfaͤlle hat, daß ſie die in Kaſſel auf dem Winterkaſten uͤbertreffen. Denn dort iſt durch Kunſt manche Unregelmaͤßigkeit aus dem Wege geraͤumt, hier aber regiert die roheſte Natur.
Auf vorher erwaͤhnten hohen Granitaggregaten war es, wo ich am 14. Auguſt Morgens mit Sonnenaufgang eine der goͤttlichſten Ausſichten genoß, die ſich denken laſſen, eine Ausſicht, die eine beredtere Feder als die meinige fordert, um ſie nur einigermaßen wuͤrdig zu beſchreiben. Den Tag vorher hatte es unten ſehr fein geregnet, und auf den Alpen geſchneyet. Dieſes endigte ſich aber gegen Mitternacht, und es wurde vollkommen helle. Bey dieſer Gelegenheit nun war ſehr viel Feuchtigkeit in den Thaͤlern, die alles mit dickem Nebel uͤberzog. Jch aber ſtand bey weitem hoͤher wie aller Nebel. Nun gieng die Sonne auf, das lezte Mondesviertel und ein reines Firmament uͤber mich. Alle Nebelſaͤulen, die gegen Oſt und Suͤd hinſtanden und die ſonderbar- ſten beinahe durchſichtigen Figuren bildeten, erhielten von der Sonne die herrlichſten Farben; zwiſchen dieſen ragten hin und wieder die Gebirgruͤcken mit ihren be- waldeten Koppen hervor. Da ſah man einen wunder- lichen großen Granitblock im Nebel ſchwimmen; denn ſeinen Berg worauf er ruhte ſah man nicht. Hier ſah man ein weites Meer, das ſanft mit ſilberfarbenen Wel- len wallte. Gegen Norden waren alle dieſe Nebel pech- ſchwarz und ſchaudervoll; denn die Hoͤhe der Berge und Wolken hinderte, daß die Sonne ſo fruͤh dort nicht hin- ſcheinen konnte. Jch ſtand 2 Stunden wie eine Statue
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Sievers Briefe
lonzowe, die ſo ſchoͤne Waſſerfaͤlle hat, daß ſie die in
Kaſſel auf dem Winterkaſten uͤbertreffen. Denn dort
iſt durch Kunſt manche Unregelmaͤßigkeit aus dem Wege
geraͤumt, hier aber regiert die roheſte Natur.
Auf vorher erwaͤhnten hohen Granitaggregaten war
es, wo ich am 14. Auguſt Morgens mit Sonnenaufgang
eine der goͤttlichſten Ausſichten genoß, die ſich denken laſſen,
eine Ausſicht, die eine beredtere Feder als die meinige
fordert, um ſie nur einigermaßen wuͤrdig zu beſchreiben.
Den Tag vorher hatte es unten ſehr fein geregnet, und
auf den Alpen geſchneyet. Dieſes endigte ſich aber
gegen Mitternacht, und es wurde vollkommen helle.
Bey dieſer Gelegenheit nun war ſehr viel Feuchtigkeit
in den Thaͤlern, die alles mit dickem Nebel uͤberzog. Jch
aber ſtand bey weitem hoͤher wie aller Nebel. Nun
gieng die Sonne auf, das lezte Mondesviertel und
ein reines Firmament uͤber mich. Alle Nebelſaͤulen,
die gegen Oſt und Suͤd hinſtanden und die ſonderbar-
ſten beinahe durchſichtigen Figuren bildeten, erhielten
von der Sonne die herrlichſten Farben; zwiſchen dieſen
ragten hin und wieder die Gebirgruͤcken mit ihren be-
waldeten Koppen hervor. Da ſah man einen wunder-
lichen großen Granitblock im Nebel ſchwimmen; denn
ſeinen Berg worauf er ruhte ſah man nicht. Hier ſah
man ein weites Meer, das ſanft mit ſilberfarbenen Wel-
len wallte. Gegen Norden waren alle dieſe Nebel pech-
ſchwarz und ſchaudervoll; denn die Hoͤhe der Berge und
Wolken hinderte, daß die Sonne ſo fruͤh dort nicht hin-
ſcheinen konnte. Jch ſtand 2 Stunden wie eine Statue
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Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/siever_briefe_1796/88>, abgerufen am 26.07.2024.
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