Sievers, Johann August Carl: Briefe aus Sibirien. St. Petersburg, 1796.Sievers Briefe nun aufstehen -- aber sie kam nicht, wie die andern, zumDoktor, sondern blieb da stehen, wo sie gesessen hatte. Der musikalische Aesculap sah ihr eine Weile scharf ins Gesicht, wobey das Weib außerordentlich erröthete, dann zählte er stillschweigend etwas an den Fingern her, sah ins Feuer, hieß die Frau wieder niedersitzen, sann ein wenig nach, fieng abermals an zu geigen, ließ die Frau von neuem aufstehen, wiederholte seine Feuer-, Finger-, Singe- und Brumm-Zeremonien, worauf sich die Frau niedersetzte, und nun wußte der weise Mann genau was ihr fehlte, ohnerachtet er wenigstens 14 Fuß von ihr entfernt stand. Der Ehemann dieser Kranken, der ein reicher Kautz war, sollte bey dieser Gelegenheit gezwickt werden; deswegen verheelte der Arzt wohl weißlich die Ursache der Krankheit, um den Mann zu reichen Ge- schenken zu bewegen. Aber ich weiß nicht wie es kam, dieser wollte von alle dem nichts wissen, und es blieb der- malen wie es war. Um Mitternacht gieng die Gesell- schaft aus einander. Am darauf folgenden Morgen er- hob sich zwischen dem Steppen-Doktor und dem Togüß ein schrecklicher Streit; ersterer, der bey seinen mangeln- den Vorderzähnen, in der heftigsten Wuth die sonder- barste Figur schnitt, forderte die Bezahlung für eine wichtige Kur, die er vor 2 Jahren an der jetzt noch le- benden Frau des Togüß verrichtet hatte. Sie lag da- mals ein ganzes Jahr wie wahnsinnig, und war dem Tode nahe; man rief also diesen Gesundmacher. Er kam, der Wundermann blieb 2 Tage, und die Frau wurde gesund!!! seine Forderungen beliefen sich an ver- schie-
Sievers Briefe nun aufſtehen — aber ſie kam nicht, wie die andern, zumDoktor, ſondern blieb da ſtehen, wo ſie geſeſſen hatte. Der muſikaliſche Aeſculap ſah ihr eine Weile ſcharf ins Geſicht, wobey das Weib außerordentlich erroͤthete, dann zaͤhlte er ſtillſchweigend etwas an den Fingern her, ſah ins Feuer, hieß die Frau wieder niederſitzen, ſann ein wenig nach, fieng abermals an zu geigen, ließ die Frau von neuem aufſtehen, wiederholte ſeine Feuer-, Finger-, Singe- und Brumm-Zeremonien, worauf ſich die Frau niederſetzte, und nun wußte der weiſe Mann genau was ihr fehlte, ohnerachtet er wenigſtens 14 Fuß von ihr entfernt ſtand. Der Ehemann dieſer Kranken, der ein reicher Kautz war, ſollte bey dieſer Gelegenheit gezwickt werden; deswegen verheelte der Arzt wohl weißlich die Urſache der Krankheit, um den Mann zu reichen Ge- ſchenken zu bewegen. Aber ich weiß nicht wie es kam, dieſer wollte von alle dem nichts wiſſen, und es blieb der- malen wie es war. Um Mitternacht gieng die Geſell- ſchaft aus einander. Am darauf folgenden Morgen er- hob ſich zwiſchen dem Steppen-Doktor und dem Toguͤß ein ſchrecklicher Streit; erſterer, der bey ſeinen mangeln- den Vorderzaͤhnen, in der heftigſten Wuth die ſonder- barſte Figur ſchnitt, forderte die Bezahlung fuͤr eine wichtige Kur, die er vor 2 Jahren an der jetzt noch le- benden Frau des Toguͤß verrichtet hatte. Sie lag da- mals ein ganzes Jahr wie wahnſinnig, und war dem Tode nahe; man rief alſo dieſen Geſundmacher. Er kam, der Wundermann blieb 2 Tage, und die Frau wurde geſund!!! ſeine Forderungen beliefen ſich an ver- ſchie-
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0222" n="214"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Sievers Briefe</hi></fw><lb/> nun aufſtehen — aber ſie kam nicht, wie die andern, zum<lb/> Doktor, ſondern blieb da ſtehen, wo ſie geſeſſen hatte.<lb/> Der muſikaliſche Aeſculap ſah ihr eine Weile ſcharf ins<lb/> Geſicht, wobey das Weib außerordentlich erroͤthete, dann<lb/> zaͤhlte er ſtillſchweigend etwas an den Fingern her, ſah<lb/> ins Feuer, hieß die Frau wieder niederſitzen, ſann ein<lb/> wenig nach, fieng abermals an zu geigen, ließ die Frau<lb/> von neuem aufſtehen, wiederholte ſeine Feuer-, Finger-,<lb/> Singe- und Brumm-Zeremonien, worauf ſich die Frau<lb/> niederſetzte, und nun wußte der weiſe Mann genau was<lb/> ihr fehlte, ohnerachtet er wenigſtens 14 Fuß von ihr<lb/> entfernt ſtand. Der Ehemann dieſer Kranken, der ein<lb/> reicher Kautz war, ſollte bey dieſer Gelegenheit gezwickt<lb/> werden; deswegen verheelte der Arzt wohl weißlich die<lb/> Urſache der Krankheit, um den Mann zu reichen Ge-<lb/> ſchenken zu bewegen. Aber ich weiß nicht wie es kam,<lb/> dieſer wollte von alle dem nichts wiſſen, und es blieb der-<lb/> malen wie es war. Um Mitternacht gieng die Geſell-<lb/> ſchaft aus einander. Am darauf folgenden Morgen er-<lb/> hob ſich zwiſchen dem Steppen-Doktor und dem <hi rendition="#fr">Toguͤß</hi><lb/> ein ſchrecklicher Streit; erſterer, der bey ſeinen mangeln-<lb/> den Vorderzaͤhnen, in der heftigſten Wuth die ſonder-<lb/> barſte Figur ſchnitt, forderte die Bezahlung fuͤr eine<lb/> wichtige Kur, die er vor 2 Jahren an der jetzt noch le-<lb/> benden Frau des Toguͤß verrichtet hatte. Sie lag da-<lb/> mals ein ganzes Jahr wie wahnſinnig, und war dem<lb/> Tode nahe; man rief alſo dieſen Geſundmacher. Er<lb/> kam, der Wundermann blieb 2 Tage, und die Frau<lb/> wurde geſund!!! ſeine Forderungen beliefen ſich an ver-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſchie-</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [214/0222]
Sievers Briefe
nun aufſtehen — aber ſie kam nicht, wie die andern, zum
Doktor, ſondern blieb da ſtehen, wo ſie geſeſſen hatte.
Der muſikaliſche Aeſculap ſah ihr eine Weile ſcharf ins
Geſicht, wobey das Weib außerordentlich erroͤthete, dann
zaͤhlte er ſtillſchweigend etwas an den Fingern her, ſah
ins Feuer, hieß die Frau wieder niederſitzen, ſann ein
wenig nach, fieng abermals an zu geigen, ließ die Frau
von neuem aufſtehen, wiederholte ſeine Feuer-, Finger-,
Singe- und Brumm-Zeremonien, worauf ſich die Frau
niederſetzte, und nun wußte der weiſe Mann genau was
ihr fehlte, ohnerachtet er wenigſtens 14 Fuß von ihr
entfernt ſtand. Der Ehemann dieſer Kranken, der ein
reicher Kautz war, ſollte bey dieſer Gelegenheit gezwickt
werden; deswegen verheelte der Arzt wohl weißlich die
Urſache der Krankheit, um den Mann zu reichen Ge-
ſchenken zu bewegen. Aber ich weiß nicht wie es kam,
dieſer wollte von alle dem nichts wiſſen, und es blieb der-
malen wie es war. Um Mitternacht gieng die Geſell-
ſchaft aus einander. Am darauf folgenden Morgen er-
hob ſich zwiſchen dem Steppen-Doktor und dem Toguͤß
ein ſchrecklicher Streit; erſterer, der bey ſeinen mangeln-
den Vorderzaͤhnen, in der heftigſten Wuth die ſonder-
barſte Figur ſchnitt, forderte die Bezahlung fuͤr eine
wichtige Kur, die er vor 2 Jahren an der jetzt noch le-
benden Frau des Toguͤß verrichtet hatte. Sie lag da-
mals ein ganzes Jahr wie wahnſinnig, und war dem
Tode nahe; man rief alſo dieſen Geſundmacher. Er
kam, der Wundermann blieb 2 Tage, und die Frau
wurde geſund!!! ſeine Forderungen beliefen ſich an ver-
ſchie-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |