sammlung hängt an den Fenstern herum eine gezeich¬ nete Kopie von Raphaels Psyche aus der Farnesine; aber sie gewährt kein ausserordentlich grosses Vergnü¬ gen, wenn man das Original noch in ganz frischem Andenken hat.
Mein erster Gang, als ich ins Museum im Lou¬ ver kam, war zum Laokoon. Ich hatte in Dresden in der Mengsischen Sammlung der Abgüsse und in Florenz bey der schönen Kopie des Biondelli einen Zweifel aufgefangen, den man mir dort nicht lösen konnte. Man sagte mir, es sey so im Original; und das konnte ich nicht glauben oder ich beschuldigte den alten grossen Künstler eines Fehlers. Die Sache war, das linke Bein, um welches sich an der Wade mit grosser Gewalt die Schlange windet, war im Ab¬ guss und in der Marmorkopie gar nicht eingedrückt. Ich weiss wohl, dass die grosse Anstrengung der Mus¬ keln einen tiefen Eindruck verhindern muss: aber eine solche Bestie, wie diese Schlange war und auf dem Kunstwerk ist, musste mit ihrer ganzen Kraft der Schlingung den Eindruck doch ziemlich merklich ma¬ chen. Hier sah ich die Ursache der Irrung auf einen Blick. Das Bein war an der Stelle gebrochen, und so auch die Schlange; man hatte die Stücke zusammen gesetzt: aber eine kleine Vertiefung der Wade unter der Pressung war auch noch im Bruche sichtbar. Beym Abguss und der Kopie scheint man darauf nicht geachtet zu haben und hat die Wade im Druck der Schlange so natürlich gemacht, als ob sie durch einen seidenen Strumpf gezogen würde. Ich überlasse das Deiner Untersuchung und Beurtheilung; mir kommt
sammlung hängt an den Fenstern herum eine gezeich¬ nete Kopie von Raphaels Psyche aus der Farnesine; aber sie gewährt kein auſserordentlich groſses Vergnü¬ gen, wenn man das Original noch in ganz frischem Andenken hat.
Mein erster Gang, als ich ins Museum im Lou¬ ver kam, war zum Laokoon. Ich hatte in Dresden in der Mengsischen Sammlung der Abgüsse und in Florenz bey der schönen Kopie des Biondelli einen Zweifel aufgefangen, den man mir dort nicht lösen konnte. Man sagte mir, es sey so im Original; und das konnte ich nicht glauben oder ich beschuldigte den alten groſsen Künstler eines Fehlers. Die Sache war, das linke Bein, um welches sich an der Wade mit groſser Gewalt die Schlange windet, war im Ab¬ guſs und in der Marmorkopie gar nicht eingedrückt. Ich weiſs wohl, daſs die groſse Anstrengung der Mus¬ keln einen tiefen Eindruck verhindern muſs: aber eine solche Bestie, wie diese Schlange war und auf dem Kunstwerk ist, muſste mit ihrer ganzen Kraft der Schlingung den Eindruck doch ziemlich merklich ma¬ chen. Hier sah ich die Ursache der Irrung auf einen Blick. Das Bein war an der Stelle gebrochen, und so auch die Schlange; man hatte die Stücke zusammen gesetzt: aber eine kleine Vertiefung der Wade unter der Pressung war auch noch im Bruche sichtbar. Beym Abguſs und der Kopie scheint man darauf nicht geachtet zu haben und hat die Wade im Druck der Schlange so natürlich gemacht, als ob sie durch einen seidenen Strumpf gezogen würde. Ich überlasse das Deiner Untersuchung und Beurtheilung; mir kommt
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[449 /0477]
sammlung hängt an den Fenstern herum eine gezeich¬
nete Kopie von Raphaels Psyche aus der Farnesine;
aber sie gewährt kein auſserordentlich groſses Vergnü¬
gen, wenn man das Original noch in ganz frischem
Andenken hat.
Mein erster Gang, als ich ins Museum im Lou¬
ver kam, war zum Laokoon. Ich hatte in Dresden
in der Mengsischen Sammlung der Abgüsse und in
Florenz bey der schönen Kopie des Biondelli einen
Zweifel aufgefangen, den man mir dort nicht lösen
konnte. Man sagte mir, es sey so im Original; und
das konnte ich nicht glauben oder ich beschuldigte
den alten groſsen Künstler eines Fehlers. Die Sache
war, das linke Bein, um welches sich an der Wade
mit groſser Gewalt die Schlange windet, war im Ab¬
guſs und in der Marmorkopie gar nicht eingedrückt.
Ich weiſs wohl, daſs die groſse Anstrengung der Mus¬
keln einen tiefen Eindruck verhindern muſs: aber
eine solche Bestie, wie diese Schlange war und auf
dem Kunstwerk ist, muſste mit ihrer ganzen Kraft der
Schlingung den Eindruck doch ziemlich merklich ma¬
chen. Hier sah ich die Ursache der Irrung auf einen
Blick. Das Bein war an der Stelle gebrochen, und so
auch die Schlange; man hatte die Stücke zusammen
gesetzt: aber eine kleine Vertiefung der Wade unter
der Pressung war auch noch im Bruche sichtbar.
Beym Abguſs und der Kopie scheint man darauf nicht
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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 449 . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/477>, abgerufen am 25.11.2024.
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