Ich wusste nicht, wie mir geschah: Und stände Zevs mit seinem Blitze nah, Vermessen griff' ich nach der Schale, Mit welcher sie die Gottheit reicht, Und wagte taumelnd jetzt vielleicht Selbst dem Alciden Holm zu sagen, Und mit dem Gott um seinen Lohn zu schlagen. --
Du denkst wohl, dass mich das marmorne Mäd¬ chen etwas ausser mich gebracht hat; und so mag es allerdings seyn. Der Italiäner betrachtete meine An¬ dacht eben so aufmerksam, wie ich seine Göttin. Diese einzige Viertelstunde hat mir meine Reise be¬ zahlt; so ein sonderbar enthusiastischer Mensch bin ich nun zuweilen. Es ist die reinste Schönheit, die ich bis jetzt in der Natur und in der Kunst gesehen habe; und ich verzweifle selbst mit meinem Ideale höher steigen zu können. Ich muss Canovas Hände küssen, wenn ich nach Rom komme, wo er, wie ich höre, jetzt lebt. Das goldene Gefäss, die goldene Schale und das goldene Stirnband haben mich gewiss nicht bestochen; ich habe bloss die Göttin angebetet, auf deren Antlitz alles, was der weibliche Himmel liebenswürdiges hat, ausgegossen ist. In das Lob der Gestalt und Glieder und des Gewandes will ich nicht eingehen; das mögen die Geweiheten thun. Alles ist des Ganzen würdig.
In dem nehmlichen Hause steht auch noch ein schöner Gypsabguss von des Künstlers Psyche. Sie ist auch ein schönes Werk; aber meine Seele ist zu voll von Hebe, um sich zu diesem Seelchen zu wenden.
Ich wuſste nicht, wie mir geschah: Und stände Zevs mit seinem Blitze nah, Vermessen griff' ich nach der Schale, Mit welcher sie die Gottheit reicht, Und wagte taumelnd jetzt vielleicht Selbst dem Alciden Holm zu sagen, Und mit dem Gott um seinen Lohn zu schlagen. —
Du denkst wohl, daſs mich das marmorne Mäd¬ chen etwas auſser mich gebracht hat; und so mag es allerdings seyn. Der Italiäner betrachtete meine An¬ dacht eben so aufmerksam, wie ich seine Göttin. Diese einzige Viertelstunde hat mir meine Reise be¬ zahlt; so ein sonderbar enthusiastischer Mensch bin ich nun zuweilen. Es ist die reinste Schönheit, die ich bis jetzt in der Natur und in der Kunst gesehen habe; und ich verzweifle selbst mit meinem Ideale höher steigen zu können. Ich muſs Canovas Hände küssen, wenn ich nach Rom komme, wo er, wie ich höre, jetzt lebt. Das goldene Gefäſs, die goldene Schale und das goldene Stirnband haben mich gewiſs nicht bestochen; ich habe bloſs die Göttin angebetet, auf deren Antlitz alles, was der weibliche Himmel liebenswürdiges hat, ausgegossen ist. In das Lob der Gestalt und Glieder und des Gewandes will ich nicht eingehen; das mögen die Geweiheten thun. Alles ist des Ganzen würdig.
In dem nehmlichen Hause steht auch noch ein schöner Gypsabguſs von des Künstlers Psyche. Sie ist auch ein schönes Werk; aber meine Seele ist zu voll von Hebe, um sich zu diesem Seelchen zu wenden.
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Ich wuſste nicht, wie mir geschah:
Und stände Zevs mit seinem Blitze nah,
Vermessen griff' ich nach der Schale,
Mit welcher sie die Gottheit reicht,
Und wagte taumelnd jetzt vielleicht
Selbst dem Alciden Holm zu sagen,
Und mit dem Gott um seinen Lohn zu schlagen. —
Du denkst wohl, daſs mich das marmorne Mäd¬
chen etwas auſser mich gebracht hat; und so mag es
allerdings seyn. Der Italiäner betrachtete meine An¬
dacht eben so aufmerksam, wie ich seine Göttin.
Diese einzige Viertelstunde hat mir meine Reise be¬
zahlt; so ein sonderbar enthusiastischer Mensch bin
ich nun zuweilen. Es ist die reinste Schönheit, die
ich bis jetzt in der Natur und in der Kunst gesehen
habe; und ich verzweifle selbst mit meinem Ideale
höher steigen zu können. Ich muſs Canovas Hände
küssen, wenn ich nach Rom komme, wo er, wie ich
höre, jetzt lebt. Das goldene Gefäſs, die goldene
Schale und das goldene Stirnband haben mich gewiſs
nicht bestochen; ich habe bloſs die Göttin angebetet,
auf deren Antlitz alles, was der weibliche Himmel
liebenswürdiges hat, ausgegossen ist. In das Lob der
Gestalt und Glieder und des Gewandes will ich nicht
eingehen; das mögen die Geweiheten thun. Alles ist
des Ganzen würdig.
In dem nehmlichen Hause steht auch noch ein
schöner Gypsabguſs von des Künstlers Psyche. Sie ist
auch ein schönes Werk; aber meine Seele ist zu voll
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Seume, Johann Gottfried: Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802. Braunschweig u. a., 1803, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seume_syrakus_1803/127>, abgerufen am 26.11.2024.
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