nen des Hospitals den Vorzug gehabt, dass niemals Leichen- miasma in ihre lebendige Vagina gekommen sei, während hier die Zeigefinger der touchirenden Studiosen solches aus dem Leichenhause mitgebracht haben. Aber näher betrachtet stellt sich dieser Hypothese die einfache Frage gegenüber, warum denn die vielen normal Entbundenen verhältnissmässig so sel- ten von Metritis septica u. dgl. befallen werden, da sie doch eben so häufig von Studirenden untersucht sind? Dieserhalb glaube ich doch, dass die Nosocomial-Atmosphäre der Wochen- zimmer und nicht die Cadaver des Leichenhauses auf unseren Vorwürfen hängen bleiben wird, wenn nach auffallend leichten Wendungen anderen Tages Metritis oder Peritonitis sich ein- stellt. Der relative Gegensatz der Hebammen und Geburts- helfer hat zwar auch hier stets bestanden, aber bis zum Jahre 1846 nicht in bestimmter räumlicher Scheidung; auf einen Unterschied in den Sterblichkeitsverhältnissen beider Abthei- lungen ist wohl überdies nicht so genau geachtet, weil man erst durch Semmelweis auf diese Fährte gekommen ist. Dieser hat die Probe an Kaninchen gemacht, an Menschen wird man sie nicht machen dürfen, und eben deshalb sind nachträgliche directe Erfahrungen unmöglich, zumal Semmelweis selbst mit der hypothetischen Aetiologie und zugleich die ziemlich sichere Prophylaxis im unterchlorichtsauren Natron gebracht hat. Jeder kann, wird und muss sich durch dieses desinficiren, wenn er in den Eingeweiden der Leichen gearbeitet hat, bevor er seine Hand in die Eingeweide der Lebendigen führt. Diese bil- lige Forderung wird forthin jede geburtshilfliche Klinik an ihre Zöglinge machen, und ihnen die Gelegenheit dazu in den eigenen Waschtischen erleichtern.
Wie gesagt, ich glaube an die Möglichkeit, und die Wiener Erfahrungen sind für mich vollkommen genügend, Vorsicht zu empfehlen; die eigenen verlange ich nicht.
Es mag dieser Weg immerhin einer von den vielen sein, welcher zum Wochenbettfieber führt, der alleinige ist es ge- wiss nicht."
nen des Hospitals den Vorzug gehabt, dass niemals Leichen- miasma in ihre lebendige Vagina gekommen sei, während hier die Zeigefinger der touchirenden Studiosen solches aus dem Leichenhause mitgebracht haben. Aber näher betrachtet stellt sich dieser Hypothese die einfache Frage gegenüber, warum denn die vielen normal Entbundenen verhältnissmässig so sel- ten von Metritis septica u. dgl. befallen werden, da sie doch eben so häufig von Studirenden untersucht sind? Dieserhalb glaube ich doch, dass die Nosocomial-Atmosphäre der Wochen- zimmer und nicht die Cadaver des Leichenhauses auf unseren Vorwürfen hängen bleiben wird, wenn nach auffallend leichten Wendungen anderen Tages Metritis oder Peritonitis sich ein- stellt. Der relative Gegensatz der Hebammen und Geburts- helfer hat zwar auch hier stets bestanden, aber bis zum Jahre 1846 nicht in bestimmter räumlicher Scheidung; auf einen Unterschied in den Sterblichkeitsverhältnissen beider Abthei- lungen ist wohl überdies nicht so genau geachtet, weil man erst durch Semmelweis auf diese Fährte gekommen ist. Dieser hat die Probe an Kaninchen gemacht, an Menschen wird man sie nicht machen dürfen, und eben deshalb sind nachträgliche directe Erfahrungen unmöglich, zumal Semmelweis selbst mit der hypothetischen Aetiologie und zugleich die ziemlich sichere Prophylaxis im unterchlorichtsauren Natron gebracht hat. Jeder kann, wird und muss sich durch dieses desinficiren, wenn er in den Eingeweiden der Leichen gearbeitet hat, bevor er seine Hand in die Eingeweide der Lebendigen führt. Diese bil- lige Forderung wird forthin jede geburtshilfliche Klinik an ihre Zöglinge machen, und ihnen die Gelegenheit dazu in den eigenen Waschtischen erleichtern.
Wie gesagt, ich glaube an die Möglichkeit, und die Wiener Erfahrungen sind für mich vollkommen genügend, Vorsicht zu empfehlen; die eigenen verlange ich nicht.
Es mag dieser Weg immerhin einer von den vielen sein, welcher zum Wochenbettfieber führt, der alleinige ist es ge- wiss nicht.«
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0475"n="463"/>
nen des Hospitals den Vorzug gehabt, dass niemals Leichen-<lb/>
miasma in ihre lebendige Vagina gekommen sei, während hier<lb/>
die Zeigefinger der touchirenden Studiosen solches aus dem<lb/>
Leichenhause mitgebracht haben. Aber näher betrachtet stellt<lb/>
sich dieser Hypothese die einfache Frage gegenüber, warum<lb/>
denn die vielen normal Entbundenen verhältnissmässig so sel-<lb/>
ten von Metritis septica u. dgl. befallen werden, da sie doch<lb/>
eben so häufig von Studirenden untersucht sind? Dieserhalb<lb/>
glaube ich doch, dass die Nosocomial-Atmosphäre der Wochen-<lb/>
zimmer und nicht die Cadaver des Leichenhauses auf unseren<lb/>
Vorwürfen hängen bleiben wird, wenn nach auffallend leichten<lb/>
Wendungen anderen Tages Metritis oder Peritonitis sich ein-<lb/>
stellt. Der relative Gegensatz der Hebammen und Geburts-<lb/>
helfer hat zwar auch hier stets bestanden, aber bis zum Jahre<lb/>
1846 nicht in bestimmter räumlicher Scheidung; auf einen<lb/>
Unterschied in den Sterblichkeitsverhältnissen beider Abthei-<lb/>
lungen ist wohl überdies nicht so genau geachtet, weil man<lb/>
erst durch Semmelweis auf diese Fährte gekommen ist. Dieser<lb/>
hat die Probe an Kaninchen gemacht, an Menschen wird man<lb/>
sie nicht machen dürfen, und eben deshalb sind nachträgliche<lb/>
directe Erfahrungen unmöglich, zumal Semmelweis selbst mit<lb/>
der hypothetischen Aetiologie und zugleich die ziemlich sichere<lb/>
Prophylaxis im unterchlorichtsauren Natron gebracht hat.<lb/>
Jeder kann, wird und muss sich durch dieses desinficiren, wenn<lb/>
er in den Eingeweiden der Leichen gearbeitet hat, bevor er<lb/>
seine Hand in die Eingeweide der Lebendigen führt. Diese bil-<lb/>
lige Forderung wird forthin jede geburtshilfliche Klinik an<lb/>
ihre Zöglinge machen, und ihnen die Gelegenheit dazu in den<lb/>
eigenen Waschtischen erleichtern.</p><lb/><p>Wie gesagt, ich glaube an die Möglichkeit, und die Wiener<lb/>
Erfahrungen sind für mich vollkommen genügend, Vorsicht zu<lb/>
empfehlen; die eigenen verlange ich nicht.</p><lb/><p>Es mag dieser Weg immerhin einer von den vielen sein,<lb/>
welcher zum Wochenbettfieber führt, der alleinige ist es ge-<lb/>
wiss nicht.«</p><lb/></div></body></text></TEI>
[463/0475]
nen des Hospitals den Vorzug gehabt, dass niemals Leichen-
miasma in ihre lebendige Vagina gekommen sei, während hier
die Zeigefinger der touchirenden Studiosen solches aus dem
Leichenhause mitgebracht haben. Aber näher betrachtet stellt
sich dieser Hypothese die einfache Frage gegenüber, warum
denn die vielen normal Entbundenen verhältnissmässig so sel-
ten von Metritis septica u. dgl. befallen werden, da sie doch
eben so häufig von Studirenden untersucht sind? Dieserhalb
glaube ich doch, dass die Nosocomial-Atmosphäre der Wochen-
zimmer und nicht die Cadaver des Leichenhauses auf unseren
Vorwürfen hängen bleiben wird, wenn nach auffallend leichten
Wendungen anderen Tages Metritis oder Peritonitis sich ein-
stellt. Der relative Gegensatz der Hebammen und Geburts-
helfer hat zwar auch hier stets bestanden, aber bis zum Jahre
1846 nicht in bestimmter räumlicher Scheidung; auf einen
Unterschied in den Sterblichkeitsverhältnissen beider Abthei-
lungen ist wohl überdies nicht so genau geachtet, weil man
erst durch Semmelweis auf diese Fährte gekommen ist. Dieser
hat die Probe an Kaninchen gemacht, an Menschen wird man
sie nicht machen dürfen, und eben deshalb sind nachträgliche
directe Erfahrungen unmöglich, zumal Semmelweis selbst mit
der hypothetischen Aetiologie und zugleich die ziemlich sichere
Prophylaxis im unterchlorichtsauren Natron gebracht hat.
Jeder kann, wird und muss sich durch dieses desinficiren, wenn
er in den Eingeweiden der Leichen gearbeitet hat, bevor er
seine Hand in die Eingeweide der Lebendigen führt. Diese bil-
lige Forderung wird forthin jede geburtshilfliche Klinik an
ihre Zöglinge machen, und ihnen die Gelegenheit dazu in den
eigenen Waschtischen erleichtern.
Wie gesagt, ich glaube an die Möglichkeit, und die Wiener
Erfahrungen sind für mich vollkommen genügend, Vorsicht zu
empfehlen; die eigenen verlange ich nicht.
Es mag dieser Weg immerhin einer von den vielen sein,
welcher zum Wochenbettfieber führt, der alleinige ist es ge-
wiss nicht.«
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/475>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.