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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861.

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Man könnte auf den ersten Blick sagen, jene westphäli-
schen Landfrauen der Privatpraxis haben vor den Berlinerin-

die Hebamme forderte den Geburtshelfer, aber -- die erfahrenen
Nachbarfrauen wussten es besser. Stundenlang wurde jetzt versucht,
was Frauenkräfte vermögen; endlich begreift man, dass das Kind
beim hervorgezogenen Arme nicht zu erlangen war. Nun entschied
sich der "Rath der Alten" für den Geburtshelfer; der Bote hin, der
Geburtshelfer zurück gebrauchte abermals Stunden, und nicht selten
war eine stundenlange Arbeit nöthig, um die Wendung auf die Füsse
in dem eng um das Kind zusammengeschnürten Uterus zu Stande zu
bringen. Das Kind war natürlich todt; der Tod der Mutter wurde
erwartet, Tags darauf erschien der Ehemann, um -- das völlige Wohl-
sein der Letzteren zu melden, und wenige Wochen später die Wöch-
nerin selber, um freundlichst zu danken! -- Wer sollte da nicht
glauben, dass der Uterus ein maltraitables Organ sei, und noch ferner
fragen "mulierem fortem quis inveniet?" Mit meinen zarten Berli-
nerinnen geht es umgekehrt. Jene seltenen Fälle abgerechnet, welche
im Momente des Gebärens hergefahren kommen, oder bei denen die
Wendung aus Geburtsbeschleunigungsgründen nöthig ist, habe ich bei
allen Wendungen die sogenannte "Zeit der Wahl", richtiger die Wahl
der Zeit. Die fehlerhafte Kindeslage wird oft schon während der
Schwangerschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit, immer im zweiten
Geburtszeitraum mit Gewissheit diagnosticirt. Der zur Grösse eines
Silbergroschens geöffnete Muttermund lässt durch die erschlafften Ei-
häute im wehenfreien Zeitraume den vorliegenden Ellenbogen, die
vorliegende Schulter u. s. w. wahrnehmen; nun weiss man genug.
Man bleibt zu Hause, geht ab und zu, erwartet geduldig nicht den
Blasensprung, sondern die springfertige Blase, um die Wendung nach
der Deleurye'schen Methode vorzunehmen. Kommt der natürliche
Blasensprung dieser Absicht zuvor, so ist dies auch kein Unglück,
man ist zu Hause und das Wendungslager im Voraus fertig. Die
Wendung selbst ist eine wahre Bagatelle, einige Zuhörer sehen nach
der Uhr, in einer, zwei, bis drei Minuten sind beide Füsse an das
Tageslicht gezogen, die Expulsion des Kindes wird der Natur über-
lassen, auch sie folgt, ohne Beschwerde, die Nachgeburt desgleichen;
die Entbundene dankt und befindet sich vortrefflich. Anderen Tags
hat sie -- anhaltende Leibschmerzen, verträgt den Fingerdruck nicht,
sie fängt an zu brechen, bekommt Ammonium carbonicum und 30
Blutegel, wird in die Schälein'sche oder Wolff'sche Klinik verlegt,
und dort an der exquisitesten Metritis, Peritonitis u. s. w. weiter behan-
delt. Hier, wo der Uterus nicht im geringsten maltraitirt ist, glaube ich
an eine "Nosocomial-Atmosphäre."

Man könnte auf den ersten Blick sagen, jene westphäli-
schen Landfrauen der Privatpraxis haben vor den Berlinerin-

die Hebamme forderte den Geburtshelfer, aber — die erfahrenen
Nachbarfrauen wussten es besser. Stundenlang wurde jetzt versucht,
was Frauenkräfte vermögen; endlich begreift man, dass das Kind
beim hervorgezogenen Arme nicht zu erlangen war. Nun entschied
sich der »Rath der Alten« für den Geburtshelfer; der Bote hin, der
Geburtshelfer zurück gebrauchte abermals Stunden, und nicht selten
war eine stundenlange Arbeit nöthig, um die Wendung auf die Füsse
in dem eng um das Kind zusammengeschnürten Uterus zu Stande zu
bringen. Das Kind war natürlich todt; der Tod der Mutter wurde
erwartet, Tags darauf erschien der Ehemann, um — das völlige Wohl-
sein der Letzteren zu melden, und wenige Wochen später die Wöch-
nerin selber, um freundlichst zu danken! — Wer sollte da nicht
glauben, dass der Uterus ein maltraitables Organ sei, und noch ferner
fragen »mulierem fortem quis inveniet?« Mit meinen zarten Berli-
nerinnen geht es umgekehrt. Jene seltenen Fälle abgerechnet, welche
im Momente des Gebärens hergefahren kommen, oder bei denen die
Wendung aus Geburtsbeschleunigungsgründen nöthig ist, habe ich bei
allen Wendungen die sogenannte »Zeit der Wahl«, richtiger die Wahl
der Zeit. Die fehlerhafte Kindeslage wird oft schon während der
Schwangerschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit, immer im zweiten
Geburtszeitraum mit Gewissheit diagnosticirt. Der zur Grösse eines
Silbergroschens geöffnete Muttermund lässt durch die erschlafften Ei-
häute im wehenfreien Zeitraume den vorliegenden Ellenbogen, die
vorliegende Schulter u. s. w. wahrnehmen; nun weiss man genug.
Man bleibt zu Hause, geht ab und zu, erwartet geduldig nicht den
Blasensprung, sondern die springfertige Blase, um die Wendung nach
der Deleurye’schen Methode vorzunehmen. Kommt der natürliche
Blasensprung dieser Absicht zuvor, so ist dies auch kein Unglück,
man ist zu Hause und das Wendungslager im Voraus fertig. Die
Wendung selbst ist eine wahre Bagatelle, einige Zuhörer sehen nach
der Uhr, in einer, zwei, bis drei Minuten sind beide Füsse an das
Tageslicht gezogen, die Expulsion des Kindes wird der Natur über-
lassen, auch sie folgt, ohne Beschwerde, die Nachgeburt desgleichen;
die Entbundene dankt und befindet sich vortrefflich. Anderen Tags
hat sie — anhaltende Leibschmerzen, verträgt den Fingerdruck nicht,
sie fängt an zu brechen, bekommt Ammonium carbonicum und 30
Blutegel, wird in die Schälein’sche oder Wolff’sche Klinik verlegt,
und dort an der exquisitesten Metritis, Peritonitis u. s. w. weiter behan-
delt. Hier, wo der Uterus nicht im geringsten maltraitirt ist, glaube ich
an eine »Nosocomial-Atmosphäre.«
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[462/0474] Man könnte auf den ersten Blick sagen, jene westphäli- schen Landfrauen der Privatpraxis haben vor den Berlinerin- **) **) die Hebamme forderte den Geburtshelfer, aber — die erfahrenen Nachbarfrauen wussten es besser. Stundenlang wurde jetzt versucht, was Frauenkräfte vermögen; endlich begreift man, dass das Kind beim hervorgezogenen Arme nicht zu erlangen war. Nun entschied sich der »Rath der Alten« für den Geburtshelfer; der Bote hin, der Geburtshelfer zurück gebrauchte abermals Stunden, und nicht selten war eine stundenlange Arbeit nöthig, um die Wendung auf die Füsse in dem eng um das Kind zusammengeschnürten Uterus zu Stande zu bringen. Das Kind war natürlich todt; der Tod der Mutter wurde erwartet, Tags darauf erschien der Ehemann, um — das völlige Wohl- sein der Letzteren zu melden, und wenige Wochen später die Wöch- nerin selber, um freundlichst zu danken! — Wer sollte da nicht glauben, dass der Uterus ein maltraitables Organ sei, und noch ferner fragen »mulierem fortem quis inveniet?« Mit meinen zarten Berli- nerinnen geht es umgekehrt. Jene seltenen Fälle abgerechnet, welche im Momente des Gebärens hergefahren kommen, oder bei denen die Wendung aus Geburtsbeschleunigungsgründen nöthig ist, habe ich bei allen Wendungen die sogenannte »Zeit der Wahl«, richtiger die Wahl der Zeit. Die fehlerhafte Kindeslage wird oft schon während der Schwangerschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit, immer im zweiten Geburtszeitraum mit Gewissheit diagnosticirt. Der zur Grösse eines Silbergroschens geöffnete Muttermund lässt durch die erschlafften Ei- häute im wehenfreien Zeitraume den vorliegenden Ellenbogen, die vorliegende Schulter u. s. w. wahrnehmen; nun weiss man genug. Man bleibt zu Hause, geht ab und zu, erwartet geduldig nicht den Blasensprung, sondern die springfertige Blase, um die Wendung nach der Deleurye’schen Methode vorzunehmen. Kommt der natürliche Blasensprung dieser Absicht zuvor, so ist dies auch kein Unglück, man ist zu Hause und das Wendungslager im Voraus fertig. Die Wendung selbst ist eine wahre Bagatelle, einige Zuhörer sehen nach der Uhr, in einer, zwei, bis drei Minuten sind beide Füsse an das Tageslicht gezogen, die Expulsion des Kindes wird der Natur über- lassen, auch sie folgt, ohne Beschwerde, die Nachgeburt desgleichen; die Entbundene dankt und befindet sich vortrefflich. Anderen Tags hat sie — anhaltende Leibschmerzen, verträgt den Fingerdruck nicht, sie fängt an zu brechen, bekommt Ammonium carbonicum und 30 Blutegel, wird in die Schälein’sche oder Wolff’sche Klinik verlegt, und dort an der exquisitesten Metritis, Peritonitis u. s. w. weiter behan- delt. Hier, wo der Uterus nicht im geringsten maltraitirt ist, glaube ich an eine »Nosocomial-Atmosphäre.«

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Zitationshilfe: Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/474>, abgerufen am 25.11.2024.