Die Studirenden der Geburtshilfe gehen daher abwechselnd in eine medicinische oder chirurgische, oder in eine der Special- kliniken, und kehren in den Zwischenpausen derselben zurück, um sich von etwaigen Fortschritten zu überzeugen, oder auch sie gehen ins Leichenhaus, um sich schnell rufen zu lassen, wenn wesentliche Veränderungen eintreten.
"Sie gehen ins Leichenhaus."
Dieses Alterniren zwischen beiden Polen des Lebens, zwischen der Wiege und der Bahre, führt mich zu einer Epi- sode; ich meine die in öffentlichen Blättern vielfach besprochene Semmelweis'sche Wahrnehmung und Vermuthung.
Von meinem lieben Freunde und Collegen, Hrn. Professor Brücke in Wien, erhalte ich in dieser Angelegenheit folgenden Brief, den ich um so mehr wörtlich mittheile, als Herr Brücke, wie die ganze Welt weiss, kein leichtgläubiger Mensch, son- dern ein gründlicher exacter Forscher ist, und sein Interesse für die Sache eine neue Aufforderung bilden muss, diese wich- tige Angelegenheit nicht mit Hume'schem Scepticismus zurück- zuweisen.
"In der hiesigen Gebäranstalt (Wien) sind durch eine Reihe von Jahren sehr viele Wöchnerinnen am Puerperalfieber zu Grunde gegangen, und zwar nur auf der Abtheilung, welche von den Studirenden besucht wurde, während die Sterblichkeit auf der Lehrabtheilung der Hebammen gering war. Dieser grossen Sterblichkeit hat der Dr. Semmelweis dadurch Ein- halt gethan, dass er keinen Studirenden während und nach der Geburt zum Touchiren zuliess, ehe er sich mit einer Lösung von unterchlorichtsaurem Natron gewaschen hatte. Er glaubt deshalb, dass viele Puerperalfieber dadurch erzeugt worden sind, dass die Studirenden, nachdem sie Leichenöffnungen vor- genommen hatten, mit nicht sorgfältig gereinigten Händen touchirten.
In der That ist es auffallend, dass sich die grosse Sterb- lichkeit erst eingefunden hat, seitdem hier mit Eifer patholo- gische Anatomie getrieben wird, und dass sie auf der zweiten
Die Studirenden der Geburtshilfe gehen daher abwechselnd in eine medicinische oder chirurgische, oder in eine der Special- kliniken, und kehren in den Zwischenpausen derselben zurück, um sich von etwaigen Fortschritten zu überzeugen, oder auch sie gehen ins Leichenhaus, um sich schnell rufen zu lassen, wenn wesentliche Veränderungen eintreten.
»Sie gehen ins Leichenhaus.«
Dieses Alterniren zwischen beiden Polen des Lebens, zwischen der Wiege und der Bahre, führt mich zu einer Epi- sode; ich meine die in öffentlichen Blättern vielfach besprochene Semmelweis’sche Wahrnehmung und Vermuthung.
Von meinem lieben Freunde und Collegen, Hrn. Professor Brücke in Wien, erhalte ich in dieser Angelegenheit folgenden Brief, den ich um so mehr wörtlich mittheile, als Herr Brücke, wie die ganze Welt weiss, kein leichtgläubiger Mensch, son- dern ein gründlicher exacter Forscher ist, und sein Interesse für die Sache eine neue Aufforderung bilden muss, diese wich- tige Angelegenheit nicht mit Hume’schem Scepticismus zurück- zuweisen.
»In der hiesigen Gebäranstalt (Wien) sind durch eine Reihe von Jahren sehr viele Wöchnerinnen am Puerperalfieber zu Grunde gegangen, und zwar nur auf der Abtheilung, welche von den Studirenden besucht wurde, während die Sterblichkeit auf der Lehrabtheilung der Hebammen gering war. Dieser grossen Sterblichkeit hat der Dr. Semmelweis dadurch Ein- halt gethan, dass er keinen Studirenden während und nach der Geburt zum Touchiren zuliess, ehe er sich mit einer Lösung von unterchlorichtsaurem Natron gewaschen hatte. Er glaubt deshalb, dass viele Puerperalfieber dadurch erzeugt worden sind, dass die Studirenden, nachdem sie Leichenöffnungen vor- genommen hatten, mit nicht sorgfältig gereinigten Händen touchirten.
In der That ist es auffallend, dass sich die grosse Sterb- lichkeit erst eingefunden hat, seitdem hier mit Eifer patholo- gische Anatomie getrieben wird, und dass sie auf der zweiten
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Die Studirenden der Geburtshilfe gehen daher abwechselnd in
eine medicinische oder chirurgische, oder in eine der Special-
kliniken, und kehren in den Zwischenpausen derselben zurück,
um sich von etwaigen Fortschritten zu überzeugen, oder auch
sie gehen ins Leichenhaus, um sich schnell rufen zu lassen,
wenn wesentliche Veränderungen eintreten.
»Sie gehen ins Leichenhaus.«
Dieses Alterniren zwischen beiden Polen des Lebens,
zwischen der Wiege und der Bahre, führt mich zu einer Epi-
sode; ich meine die in öffentlichen Blättern vielfach besprochene
Semmelweis’sche Wahrnehmung und Vermuthung.
Von meinem lieben Freunde und Collegen, Hrn. Professor
Brücke in Wien, erhalte ich in dieser Angelegenheit folgenden
Brief, den ich um so mehr wörtlich mittheile, als Herr Brücke,
wie die ganze Welt weiss, kein leichtgläubiger Mensch, son-
dern ein gründlicher exacter Forscher ist, und sein Interesse
für die Sache eine neue Aufforderung bilden muss, diese wich-
tige Angelegenheit nicht mit Hume’schem Scepticismus zurück-
zuweisen.
»In der hiesigen Gebäranstalt (Wien) sind durch eine
Reihe von Jahren sehr viele Wöchnerinnen am Puerperalfieber
zu Grunde gegangen, und zwar nur auf der Abtheilung, welche
von den Studirenden besucht wurde, während die Sterblichkeit
auf der Lehrabtheilung der Hebammen gering war. Dieser
grossen Sterblichkeit hat der Dr. Semmelweis dadurch Ein-
halt gethan, dass er keinen Studirenden während und nach der
Geburt zum Touchiren zuliess, ehe er sich mit einer Lösung
von unterchlorichtsaurem Natron gewaschen hatte. Er glaubt
deshalb, dass viele Puerperalfieber dadurch erzeugt worden
sind, dass die Studirenden, nachdem sie Leichenöffnungen vor-
genommen hatten, mit nicht sorgfältig gereinigten Händen
touchirten.
In der That ist es auffallend, dass sich die grosse Sterb-
lichkeit erst eingefunden hat, seitdem hier mit Eifer patholo-
gische Anatomie getrieben wird, und dass sie auf der zweiten
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Semmelweis, Ignaz Philipp: Die Ätiologie, der Begriff und die Prophylaxe des Kindbettfiebers. Pest u. a., 1861, S. 460. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/semmelweis_kindbettfieber_1861/472>, abgerufen am 22.11.2024.
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