pse_071.003 Eine Dichtung ist wie jedes Kunstwerk als ein abhebbarer pse_071.004 Gegenstand ein Stück Realität. Sie baut auf Wirklichkeit auf, pse_071.005 gestaltet aber, von ihr ausgehend, auf ihre Weise und mit pse_071.006 ihren Mitteln für den Betrachtenden eine neue Welt, die für pse_071.007 sich besteht. Diese Welt der Dichtung weist nun ein neues pse_071.008 Merkmal auf. Wir wollen es an Mörikes "Septembermorgen" pse_071.009 erkennen:
pse_071.010
Im Nebel ruhet noch die Welt,pse_071.011 Noch träumen Wald und Wiesen.pse_071.012 Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,pse_071.013 Den blauen Himmel unverstellt,pse_071.014 Herbstkräftig die gedämpfte Weltpse_071.015 In warmem Golde fließen.
pse_071.016
Gewiß bauen diese Verse auf der außersprachlichen Wirklichkeit pse_071.017 auf. Am sinnfälligsten: wir müssen die Worte verstehen, pse_071.018 und das können wir nur, wenn wir sie mit einmal erfahrenen pse_071.019 Wirklichkeitsstücken in Beziehung bringen. Aber in diesem pse_071.020 Gedicht ersteht eine Wirklichkeit für sich. Sie baut sich auf pse_071.021 aus dem reichen Gehalt der Worte, in dem auch Gefühle pse_071.022 lebendig werden; im Zusammenwirken der Worte: man pse_071.023 beachte besonders die beiden letzten Verse; aus dem Reichtum pse_071.024 der Klänge, besonders der abwechslungsreichen Vokale, pse_071.025 im Klang der Konsonanten, etwa deutlich im letzten Vers; pse_071.026 endlich im Rhythmus. Die Welt, die hier ersteht, knüpft als pse_071.027 solche nicht an einen bestimmten Herbstmorgen an, sondern pse_071.028 es wächst aus dem sprachlichen Gefüge, in dem alle eben erwähnten pse_071.029 Kräfte und noch mehr zusammenwirken, ein Gebilde pse_071.030 auf, in dem uns der Zauber, das Ergreifende, die Fülle pse_071.031 und die Schönheit eines Herbstmorgens überhaupt erscheinen, pse_071.032 und zwar nicht in Realitätsstücken, sondern in der pse_071.033 Sprache, die in ihrem Sein Außen- und Innenwelt vereint. pse_071.034 Es erscheint dem Menschen in dem nur ihm eigenen Gebilde, pse_071.035 also für ihn, gleichsam das Wesen des Herbstes in bestimmter
pse_071.001 II pse_071.002 DIE VERWESENTLICHUNG
pse_071.003 Eine Dichtung ist wie jedes Kunstwerk als ein abhebbarer pse_071.004 Gegenstand ein Stück Realität. Sie baut auf Wirklichkeit auf, pse_071.005 gestaltet aber, von ihr ausgehend, auf ihre Weise und mit pse_071.006 ihren Mitteln für den Betrachtenden eine neue Welt, die für pse_071.007 sich besteht. Diese Welt der Dichtung weist nun ein neues pse_071.008 Merkmal auf. Wir wollen es an Mörikes »Septembermorgen« pse_071.009 erkennen:
pse_071.010
Im Nebel ruhet noch die Welt,pse_071.011 Noch träumen Wald und Wiesen.pse_071.012 Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,pse_071.013 Den blauen Himmel unverstellt,pse_071.014 Herbstkräftig die gedämpfte Weltpse_071.015 In warmem Golde fließen.
pse_071.016
Gewiß bauen diese Verse auf der außersprachlichen Wirklichkeit pse_071.017 auf. Am sinnfälligsten: wir müssen die Worte verstehen, pse_071.018 und das können wir nur, wenn wir sie mit einmal erfahrenen pse_071.019 Wirklichkeitsstücken in Beziehung bringen. Aber in diesem pse_071.020 Gedicht ersteht eine Wirklichkeit für sich. Sie baut sich auf pse_071.021 aus dem reichen Gehalt der Worte, in dem auch Gefühle pse_071.022 lebendig werden; im Zusammenwirken der Worte: man pse_071.023 beachte besonders die beiden letzten Verse; aus dem Reichtum pse_071.024 der Klänge, besonders der abwechslungsreichen Vokale, pse_071.025 im Klang der Konsonanten, etwa deutlich im letzten Vers; pse_071.026 endlich im Rhythmus. Die Welt, die hier ersteht, knüpft als pse_071.027 solche nicht an einen bestimmten Herbstmorgen an, sondern pse_071.028 es wächst aus dem sprachlichen Gefüge, in dem alle eben erwähnten pse_071.029 Kräfte und noch mehr zusammenwirken, ein Gebilde pse_071.030 auf, in dem uns der Zauber, das Ergreifende, die Fülle pse_071.031 und die Schönheit eines Herbstmorgens überhaupt erscheinen, pse_071.032 und zwar nicht in Realitätsstücken, sondern in der pse_071.033 Sprache, die in ihrem Sein Außen- und Innenwelt vereint. pse_071.034 Es erscheint dem Menschen in dem nur ihm eigenen Gebilde, pse_071.035 also für ihn, gleichsam das Wesen des Herbstes in bestimmter
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Gegenstand ein Stück Realität. Sie baut auf Wirklichkeit auf, pse_071.005
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sich besteht. Diese Welt der Dichtung weist nun ein neues pse_071.008
Merkmal auf. Wir wollen es an Mörikes »Septembermorgen« pse_071.009
erkennen:
pse_071.010
Im Nebel ruhet noch die Welt, pse_071.011
Noch träumen Wald und Wiesen. pse_071.012
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, pse_071.013
Den blauen Himmel unverstellt, pse_071.014
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In warmem Golde fließen.
pse_071.016
Gewiß bauen diese Verse auf der außersprachlichen Wirklichkeit pse_071.017
auf. Am sinnfälligsten: wir müssen die Worte verstehen, pse_071.018
und das können wir nur, wenn wir sie mit einmal erfahrenen pse_071.019
Wirklichkeitsstücken in Beziehung bringen. Aber in diesem pse_071.020
Gedicht ersteht eine Wirklichkeit für sich. Sie baut sich auf pse_071.021
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es wächst aus dem sprachlichen Gefüge, in dem alle eben erwähnten pse_071.029
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und die Schönheit eines Herbstmorgens überhaupt erscheinen, pse_071.032
und zwar nicht in Realitätsstücken, sondern in der pse_071.033
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. E71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/87>, abgerufen am 24.11.2024.
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