pse_067.001 Stifters "Witiko"? Freilich: oft ist dieser geschichtliche Stoff pse_067.002 selbst schon geformter Stoff, aber nicht künstlerisch geformt, pse_067.003 sondern wissenschaftlich geordnet und zu einem geistigen pse_067.004 Zusammenhang gefügt. Damit allerdings treten für pse_067.005 die Dichtung, die eine solche geistige geformte Welt zur pse_067.006 Ausgangslage nimmt, neue Fragen und Schwierigkeiten auf.
pse_067.007 Die Beziehung zwischen außerdichterischer und dichterischer pse_067.008 Welt führt zum viel erörterten Begriff der Nachahmungpse_067.009 oder Mimesis. Es handelt sich hier nicht darum, daß pse_067.010 der junge Künstler sich große Vorbilder nehmen solle, sondern pse_067.011 daß der Dichter in seiner Welt die Außenwelt nachahmen pse_067.012 solle. Der Ausdruck Mimesis spielt seit dem Altertum pse_067.013 in der Kunsttheorie eine große Rolle. Davon, daß Dichtung pse_067.014 ein Stück Außenwelt nachahmen solle, ist man heute auf alle pse_067.015 Fälle abgekommen. Aber man versucht, den Ausdruck Mimesis pse_067.016 wegen seines ehrwürdigen Alters und der Autorität pse_067.017 des Aristoteles zu retten, d. h. man versucht auf die verschiedenste pse_067.018 Weise, ihm einen neuen Gehalt zu geben. Gewiß hat pse_067.019 von Aristoteles bis Schiller dieser Begriff eine große Rolle pse_067.020 gespielt. Es fragt sich aber, ob es aus unsrer heutigen geistigen pse_067.021 Lage noch notwendig und möglich ist, mit ihm an die Dichtung pse_067.022 heranzutreten, Dichtung zu begreifen. Wir stehen hier pse_067.023 an einer Stelle, wo wir die geschichtliche Bedingtheit jeder pse_067.024 Erkenntnisleistung spüren. Unnötig aber scheint es, neuen pse_067.025 Wein in alte Schläuche zu füllen und dem Wort Mimesis pse_067.026 neuen Gehalt zu geben. So sei etwa die Darstellung eines pse_067.027 bereits im Geiste des Schöpfers geordneten Wirklichkeitszusammenhangs pse_067.028 Nachahmung. Andere verwerten den Begriff pse_067.029 Mimesis mit mehr Recht nur für die bildenden Künste. pse_067.030 Wieder andere suchen den Begriff des Nachahmens aus dem pse_067.031 Worte Mimesis auszuscheiden -- um dadurch Aristoteles zu pse_067.032 retten, und sagen sehr richtig: die (außerdichterische) Wirklichkeit pse_067.033 sei der Stoff des dichterischen Schaffens; wozu aber pse_067.034 da noch den sehr klar geprägten Gehalt des Wortes "Nachahmung" pse_067.035 bemühen? Wir rühren hier eigentlich schon an die pse_067.036 Geheimnisse des dichterischen Schöpfungsprozesses. So viel pse_067.037 ist klar: der Stoff ist für den Dichter wirklich nur Rohstoff, pse_067.038 das Material, aus dem er ein Kunstwerk schafft, und zwar aus
pse_067.001 Stifters »Witiko«? Freilich: oft ist dieser geschichtliche Stoff pse_067.002 selbst schon geformter Stoff, aber nicht künstlerisch geformt, pse_067.003 sondern wissenschaftlich geordnet und zu einem geistigen pse_067.004 Zusammenhang gefügt. Damit allerdings treten für pse_067.005 die Dichtung, die eine solche geistige geformte Welt zur pse_067.006 Ausgangslage nimmt, neue Fragen und Schwierigkeiten auf.
pse_067.007 Die Beziehung zwischen außerdichterischer und dichterischer pse_067.008 Welt führt zum viel erörterten Begriff der Nachahmungpse_067.009 oder Mimesis. Es handelt sich hier nicht darum, daß pse_067.010 der junge Künstler sich große Vorbilder nehmen solle, sondern pse_067.011 daß der Dichter in seiner Welt die Außenwelt nachahmen pse_067.012 solle. Der Ausdruck Mimesis spielt seit dem Altertum pse_067.013 in der Kunsttheorie eine große Rolle. Davon, daß Dichtung pse_067.014 ein Stück Außenwelt nachahmen solle, ist man heute auf alle pse_067.015 Fälle abgekommen. Aber man versucht, den Ausdruck Mimesis pse_067.016 wegen seines ehrwürdigen Alters und der Autorität pse_067.017 des Aristoteles zu retten, d. h. man versucht auf die verschiedenste pse_067.018 Weise, ihm einen neuen Gehalt zu geben. Gewiß hat pse_067.019 von Aristoteles bis Schiller dieser Begriff eine große Rolle pse_067.020 gespielt. Es fragt sich aber, ob es aus unsrer heutigen geistigen pse_067.021 Lage noch notwendig und möglich ist, mit ihm an die Dichtung pse_067.022 heranzutreten, Dichtung zu begreifen. Wir stehen hier pse_067.023 an einer Stelle, wo wir die geschichtliche Bedingtheit jeder pse_067.024 Erkenntnisleistung spüren. Unnötig aber scheint es, neuen pse_067.025 Wein in alte Schläuche zu füllen und dem Wort Mimesis pse_067.026 neuen Gehalt zu geben. So sei etwa die Darstellung eines pse_067.027 bereits im Geiste des Schöpfers geordneten Wirklichkeitszusammenhangs pse_067.028 Nachahmung. Andere verwerten den Begriff pse_067.029 Mimesis mit mehr Recht nur für die bildenden Künste. pse_067.030 Wieder andere suchen den Begriff des Nachahmens aus dem pse_067.031 Worte Mimesis auszuscheiden — um dadurch Aristoteles zu pse_067.032 retten, und sagen sehr richtig: die (außerdichterische) Wirklichkeit pse_067.033 sei der Stoff des dichterischen Schaffens; wozu aber pse_067.034 da noch den sehr klar geprägten Gehalt des Wortes »Nachahmung« pse_067.035 bemühen? Wir rühren hier eigentlich schon an die pse_067.036 Geheimnisse des dichterischen Schöpfungsprozesses. So viel pse_067.037 ist klar: der Stoff ist für den Dichter wirklich nur Rohstoff, pse_067.038 das Material, aus dem er ein Kunstwerk schafft, und zwar aus
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Stifters »Witiko«? Freilich: oft ist dieser geschichtliche Stoff pse_067.002
selbst schon geformter Stoff, aber nicht künstlerisch geformt, pse_067.003
sondern wissenschaftlich geordnet und zu einem geistigen pse_067.004
Zusammenhang gefügt. Damit allerdings treten für pse_067.005
die Dichtung, die eine solche geistige geformte Welt zur pse_067.006
Ausgangslage nimmt, neue Fragen und Schwierigkeiten auf.
pse_067.007
Die Beziehung zwischen außerdichterischer und dichterischer pse_067.008
Welt führt zum viel erörterten Begriff der Nachahmung pse_067.009
oder Mimesis. Es handelt sich hier nicht darum, daß pse_067.010
der junge Künstler sich große Vorbilder nehmen solle, sondern pse_067.011
daß der Dichter in seiner Welt die Außenwelt nachahmen pse_067.012
solle. Der Ausdruck Mimesis spielt seit dem Altertum pse_067.013
in der Kunsttheorie eine große Rolle. Davon, daß Dichtung pse_067.014
ein Stück Außenwelt nachahmen solle, ist man heute auf alle pse_067.015
Fälle abgekommen. Aber man versucht, den Ausdruck Mimesis pse_067.016
wegen seines ehrwürdigen Alters und der Autorität pse_067.017
des Aristoteles zu retten, d. h. man versucht auf die verschiedenste pse_067.018
Weise, ihm einen neuen Gehalt zu geben. Gewiß hat pse_067.019
von Aristoteles bis Schiller dieser Begriff eine große Rolle pse_067.020
gespielt. Es fragt sich aber, ob es aus unsrer heutigen geistigen pse_067.021
Lage noch notwendig und möglich ist, mit ihm an die Dichtung pse_067.022
heranzutreten, Dichtung zu begreifen. Wir stehen hier pse_067.023
an einer Stelle, wo wir die geschichtliche Bedingtheit jeder pse_067.024
Erkenntnisleistung spüren. Unnötig aber scheint es, neuen pse_067.025
Wein in alte Schläuche zu füllen und dem Wort Mimesis pse_067.026
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Nachahmung. Andere verwerten den Begriff pse_067.029
Mimesis mit mehr Recht nur für die bildenden Künste. pse_067.030
Wieder andere suchen den Begriff des Nachahmens aus dem pse_067.031
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/83>, abgerufen am 24.11.2024.
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