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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Bekanntwerden einer Dichtung kann sie sofort wertmäßig pse_686.002
festgelegt werden aus der Voreingenommenheit der Leser pse_686.003
durch ein dichtungsfremdes Wertesystem, etwa durch ein pse_686.004
politisches oder standesgebundenes. Die Dichtung wird dabei pse_686.005
entweder überschätzt oder abgelehnt. Später kommt es zu pse_686.006
Fehlurteilen auch dadurch, daß man an der Wirkung, etwa pse_686.007
an der Auflagenzahl den Wert ablesen möchte; denn der pse_686.008
äußere Erfolg gibt keinen künstlerischen Maßstab.

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Die Wandelbarkeit der Wertung einer Dichtung führt zu pse_686.010
einer Beobachtung die nun schon das irdische Schicksal der pse_686.011
Dichtungen betrifft. Zur Zeit ihrer Entstehung hoch gewertete pse_686.012
Dichtungen sinken im Lauf der Zeit in der Wertung pse_686.013
herab, wie wir gerade an einigen Beispielen angedeutet pse_686.014
haben. Umgekehrt steigen wirklich hohe Dichtungen in der pse_686.015
Wertschätzung immer mehr. Gerade dieses Steigen ist schon pse_686.016
ein Beweis des hohen Wertes. Denn steigen kann nur, was pse_686.017
alles Wertvolle in sich hat und nichts von der Wandelbarkeit pse_686.018
der Zeit entlehnen muß. So entsteht gerade bei hohen Dichtungen pse_686.019
ein großer Wirkungsbogen: sie wächst aus dem Leben, pse_686.020
hebt sich von ihm ab, aber im Erleben kehrt sie wieder zum pse_686.021
Leben zurück; je bedeutsamer solche Dichtung ist, desto pse_686.022
geschichtsmächtiger wird sie im Lauf der Zeiten. Sogar ihre pse_686.023
Unvollkommenheiten haben da eine Bedeutung: sie regen pse_686.024
den Aufnehmenden zu aktiver Mitarbeit an und entfalten pse_686.025
Vollendungstendenzen im Erlebenden.

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Literarischer Erfolg kann dem Dichter schon zu Lebzeiten pse_686.027
beschert sein, Ruhm gewinnt er durch sein Schaffen erst pse_686.028
nach seinem Tode. Aber oft verdankt er diesen Ruhm einer pse_686.029
verfälschenden Organisation. So ist auch der Ruhm des pse_686.030
Dichters kein sicheres Kennzeichen für den Wert seiner pse_686.031
Schöpfungen. Erschütternd aber mag es uns scheinen, daß pse_686.032
auch die großen Dichtungen im Laufe der Äonen untergehen pse_686.033
werden. Wir können uns heute noch kaum vorstellen, daß pse_686.034
Zeiten kommen werden, die keinen Homer, keinen Dante, pse_686.035
Shakespeare und Goethe mehr kennen werden oder nur mehr pse_686.036
vom Hörensagen. Wie viel Wertvollstes ist aber schon für pse_686.037
uns heute untergegangen, und wir können uns nur schwer ein pse_686.038
Bild von solchen Dichtungen machen, auf keinen Fall sie

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Bekanntwerden einer Dichtung kann sie sofort wertmäßig pse_686.002
festgelegt werden aus der Voreingenommenheit der Leser pse_686.003
durch ein dichtungsfremdes Wertesystem, etwa durch ein pse_686.004
politisches oder standesgebundenes. Die Dichtung wird dabei pse_686.005
entweder überschätzt oder abgelehnt. Später kommt es zu pse_686.006
Fehlurteilen auch dadurch, daß man an der Wirkung, etwa pse_686.007
an der Auflagenzahl den Wert ablesen möchte; denn der pse_686.008
äußere Erfolg gibt keinen künstlerischen Maßstab.

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Die Wandelbarkeit der Wertung einer Dichtung führt zu pse_686.010
einer Beobachtung die nun schon das irdische Schicksal der pse_686.011
Dichtungen betrifft. Zur Zeit ihrer Entstehung hoch gewertete pse_686.012
Dichtungen sinken im Lauf der Zeit in der Wertung pse_686.013
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Wertschätzung immer mehr. Gerade dieses Steigen ist schon pse_686.016
ein Beweis des hohen Wertes. Denn steigen kann nur, was pse_686.017
alles Wertvolle in sich hat und nichts von der Wandelbarkeit pse_686.018
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ein großer Wirkungsbogen: sie wächst aus dem Leben, pse_686.020
hebt sich von ihm ab, aber im Erleben kehrt sie wieder zum pse_686.021
Leben zurück; je bedeutsamer solche Dichtung ist, desto pse_686.022
geschichtsmächtiger wird sie im Lauf der Zeiten. Sogar ihre pse_686.023
Unvollkommenheiten haben da eine Bedeutung: sie regen pse_686.024
den Aufnehmenden zu aktiver Mitarbeit an und entfalten pse_686.025
Vollendungstendenzen im Erlebenden.

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Literarischer Erfolg kann dem Dichter schon zu Lebzeiten pse_686.027
beschert sein, Ruhm gewinnt er durch sein Schaffen erst pse_686.028
nach seinem Tode. Aber oft verdankt er diesen Ruhm einer pse_686.029
verfälschenden Organisation. So ist auch der Ruhm des pse_686.030
Dichters kein sicheres Kennzeichen für den Wert seiner pse_686.031
Schöpfungen. Erschütternd aber mag es uns scheinen, daß pse_686.032
auch die großen Dichtungen im Laufe der Äonen untergehen pse_686.033
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Zeiten kommen werden, die keinen Homer, keinen Dante, pse_686.035
Shakespeare und Goethe mehr kennen werden oder nur mehr pse_686.036
vom Hörensagen. Wie viel Wertvollstes ist aber schon für pse_686.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 686. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/702>, abgerufen am 22.11.2024.