pse_053.001 Sind Platons Gespräche Kunstwerke oder Metaphysik? pse_053.002 Ist ein großer katholischer Festgottesdienst in einer pse_053.003 herrlichen Kathedrale ein Kunstwerk oder ein religiöses pse_053.004 Ereignis? Diese Fragen können zumindest gestellt werden. pse_053.005 Die Antworten werden der inneren Einstellung des Antwortenden pse_053.006 gemäß verschieden sein. Aber es gibt eine Schöpfung pse_053.007 des Menschen, wo wir vielleicht alle drei Bereiche vereinigt pse_053.008 finden können: wo aus tiefer Frömmigkeit ein erstes forschendes pse_053.009 Deuten der Welt erwächst und diese Deutung in pse_053.010 greifbaren Gestaltungen dauernde Prägung findet: der Mythos. pse_053.011 Er spannt alle Phänomene in einen in sich vollkommenen pse_053.012 Kosmos in einer unvergänglichen, stets gegenwärtigen pse_053.013 Zeit. Erst in der späteren Entwicklung der Menschheitsgruppen pse_053.014 sondern sich die Bereiche, entstehen Religionen, pse_053.015 beginnen die Metaphysiker, Systeme zu errichten, und gestalten pse_053.016 die Künstler Welten in ästhetischer Schau. Daraus pse_053.017 mag auch ersichtlich sein, daß in fortgeschrittenen Kulturlagen pse_053.018 kaum jemals mehr ein echter Mythos entstehen kann. pse_053.019 Die großen Versuche mythischer Dichtungen (Spitteler, pse_053.020 Däubler, Mombert usw.) sind persönliche Kunstwerke, die pse_053.021 auf religiösen Werten und metaphysischen Begriffen als pse_053.022 einem Bildungsgut aufgebaut sind. Nur wenn der Dichter pse_053.023 das tatsächliche Leben und seine Bedrängnisse in sein Kunstwerk pse_053.024 einformt, können Gebilde entstehen, die für die moderne pse_053.025 Lage ähnliche Funktionen haben wie früher der Mythos, pse_053.026 so etwa Goethes "Faust".
pse_053.027 Damit läßt sich eine grundlegende Einstellung zum Bezug pse_053.028 von Religion, Metaphysik und Kunst finden. Das Kunstwerk pse_053.029 ist ein ästhetisches Gebilde: aus dem Ergreifen eines geschlossenen pse_053.030 Weltausschnitts in seiner Fülle und aus dem ganzen pse_053.031 Reichtum des schöpferischen Innern formt sich ein klar umschriebenes pse_053.032 Ganzes. Welche formenden Kräfte maßgebend pse_053.033 sind und wie sie zusammenwirken, ist eine Frage der einzelnen pse_053.034 Kunstgattungen und ist auch für die Dichtung zu pse_053.035 stellen. Die Gebildehaftigkeit ist das grundlegende Gesetz pse_053.036 des Kunstwerks. Aber es ist nicht bloß Form, sondern bedeutende pse_053.037 Form, im Erscheinen öffnet sich Tieferes. Es können pse_053.038 also im Kunstwerk auch religiöse Werte, metaphysische
pse_053.001 Sind Platons Gespräche Kunstwerke oder Metaphysik? pse_053.002 Ist ein großer katholischer Festgottesdienst in einer pse_053.003 herrlichen Kathedrale ein Kunstwerk oder ein religiöses pse_053.004 Ereignis? Diese Fragen können zumindest gestellt werden. pse_053.005 Die Antworten werden der inneren Einstellung des Antwortenden pse_053.006 gemäß verschieden sein. Aber es gibt eine Schöpfung pse_053.007 des Menschen, wo wir vielleicht alle drei Bereiche vereinigt pse_053.008 finden können: wo aus tiefer Frömmigkeit ein erstes forschendes pse_053.009 Deuten der Welt erwächst und diese Deutung in pse_053.010 greifbaren Gestaltungen dauernde Prägung findet: der Mythos. pse_053.011 Er spannt alle Phänomene in einen in sich vollkommenen pse_053.012 Kosmos in einer unvergänglichen, stets gegenwärtigen pse_053.013 Zeit. Erst in der späteren Entwicklung der Menschheitsgruppen pse_053.014 sondern sich die Bereiche, entstehen Religionen, pse_053.015 beginnen die Metaphysiker, Systeme zu errichten, und gestalten pse_053.016 die Künstler Welten in ästhetischer Schau. Daraus pse_053.017 mag auch ersichtlich sein, daß in fortgeschrittenen Kulturlagen pse_053.018 kaum jemals mehr ein echter Mythos entstehen kann. pse_053.019 Die großen Versuche mythischer Dichtungen (Spitteler, pse_053.020 Däubler, Mombert usw.) sind persönliche Kunstwerke, die pse_053.021 auf religiösen Werten und metaphysischen Begriffen als pse_053.022 einem Bildungsgut aufgebaut sind. Nur wenn der Dichter pse_053.023 das tatsächliche Leben und seine Bedrängnisse in sein Kunstwerk pse_053.024 einformt, können Gebilde entstehen, die für die moderne pse_053.025 Lage ähnliche Funktionen haben wie früher der Mythos, pse_053.026 so etwa Goethes »Faust«.
pse_053.027 Damit läßt sich eine grundlegende Einstellung zum Bezug pse_053.028 von Religion, Metaphysik und Kunst finden. Das Kunstwerk pse_053.029 ist ein ästhetisches Gebilde: aus dem Ergreifen eines geschlossenen pse_053.030 Weltausschnitts in seiner Fülle und aus dem ganzen pse_053.031 Reichtum des schöpferischen Innern formt sich ein klar umschriebenes pse_053.032 Ganzes. Welche formenden Kräfte maßgebend pse_053.033 sind und wie sie zusammenwirken, ist eine Frage der einzelnen pse_053.034 Kunstgattungen und ist auch für die Dichtung zu pse_053.035 stellen. Die Gebildehaftigkeit ist das grundlegende Gesetz pse_053.036 des Kunstwerks. Aber es ist nicht bloß Form, sondern bedeutende pse_053.037 Form, im Erscheinen öffnet sich Tieferes. Es können pse_053.038 also im Kunstwerk auch religiöse Werte, metaphysische
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Er spannt alle Phänomene in einen in sich vollkommenen pse_053.012
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kaum jemals mehr ein echter Mythos entstehen kann. pse_053.019
Die großen Versuche mythischer Dichtungen (Spitteler, pse_053.020
Däubler, Mombert usw.) sind persönliche Kunstwerke, die pse_053.021
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pse_053.027
Damit läßt sich eine grundlegende Einstellung zum Bezug pse_053.028
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Reichtum des schöpferischen Innern formt sich ein klar umschriebenes pse_053.032
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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/69>, abgerufen am 25.11.2024.
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