pse_662.001 und geschichtlichen Zusammenhänge ist nicht pse_662.002 bloß für das Weltbild in den Dichtungen, für die künstlerischen pse_662.003 Gestaltungen und die Kunstgesetze wichtig. Solche pse_662.004 Bindungen führen auch zu dichterischer Produktion. Man pse_662.005 macht sich nicht immer ganz klar, wie stark diese durch Aufträge, pse_662.006 Anregungen, ja sogar durch Befehle von der Gesellschaft pse_662.007 und ihren Trägern her bestimmt ist. Je mehr die Kunst pse_662.008 an bestimmte Gesellschaftsschichten, Bildungsgruppen oder pse_662.009 politische Machtgruppen gebunden ist, desto deutlicher wird pse_662.010 das der Fall sein. Das braucht auf den Wert der Dichtung pse_662.011 oder eines anderen Kunstwerks keinen Einfluß zu haben. Wir pse_662.012 denken an den "Heliand", an die "Aeneis", an Raffael und pse_662.013 Michelangelo, an vieles von Bach, Mozart und Beethoven pse_662.014 und einen Großteil der gesamteuropäischen Barockdichtung.
pse_662.015 Dem allen gegenüber muß nun allerdings eines mit stärkster pse_662.016 Betonung herausgestellt werden: entscheidend für das pse_662.017 Kunstwerk als solches ist immer, was der Dichter aus all den pse_662.018 Bindungen, Zwängen und Aufträgen macht, wie er das, was pse_662.019 sie ihm geben oder aufdrängen, zum echten Kunstwerk pse_662.020 formt. Es ist "zu bedenken, daß ein Einfluß an sich noch nichts pse_662.021 erklärt, daß immer die Frage noch offen bleibt, was aus dem pse_662.022 Einfluß geworden ist, ob sich sein Sinn erhalten, verändert pse_662.023 oder ins Gegenteil verkehrt hat. Darüber gibt uns nur der pse_662.024 Text des Dichters zuverlässige Auskunft" (Staiger). Diese pse_662.025 Feststellung betrifft schon unmittelbar den Gehalt und die pse_662.026 künstlerische Form der Dichtung. Nicht welche Topoi ein pse_662.027 Dichter verwendet, welche Strophenformen er benützt, pse_662.028 welche Motive vorkommen und welchen Philosophen er zu pse_662.029 Rate gezogen hat, ist für das Erfassen des Kunstwerks in pse_662.030 seiner Einmaligkeit entscheidend, sondern wie er das alles in pse_662.031 ein echtes und in sich geschlossenes Kunstwerk eingeschmolzen pse_662.032 hat. Die Literaturgeschichte allerdings hat auch nach dem pse_662.033 Woher zu fragen. Die Poetik stellt bloß fest, daß es solche pse_662.034 Woher in Fülle gibt und betont damit eben die geschichtliche pse_662.035 Gebundenheit der Dichtung. Die Frage, was der Dichter pse_662.036 daraus gemacht hat, gilt aber weiter vor allem der Verwesentlichung. pse_662.037 Der echte Dichter schmilzt nicht nur alle Anregungen pse_662.038 und Formen in ein neues Ganzes ein, sondern er
pse_662.001 und geschichtlichen Zusammenhänge ist nicht pse_662.002 bloß für das Weltbild in den Dichtungen, für die künstlerischen pse_662.003 Gestaltungen und die Kunstgesetze wichtig. Solche pse_662.004 Bindungen führen auch zu dichterischer Produktion. Man pse_662.005 macht sich nicht immer ganz klar, wie stark diese durch Aufträge, pse_662.006 Anregungen, ja sogar durch Befehle von der Gesellschaft pse_662.007 und ihren Trägern her bestimmt ist. Je mehr die Kunst pse_662.008 an bestimmte Gesellschaftsschichten, Bildungsgruppen oder pse_662.009 politische Machtgruppen gebunden ist, desto deutlicher wird pse_662.010 das der Fall sein. Das braucht auf den Wert der Dichtung pse_662.011 oder eines anderen Kunstwerks keinen Einfluß zu haben. Wir pse_662.012 denken an den »Heliand«, an die »Aeneis«, an Raffael und pse_662.013 Michelangelo, an vieles von Bach, Mozart und Beethoven pse_662.014 und einen Großteil der gesamteuropäischen Barockdichtung.
pse_662.015 Dem allen gegenüber muß nun allerdings eines mit stärkster pse_662.016 Betonung herausgestellt werden: entscheidend für das pse_662.017 Kunstwerk als solches ist immer, was der Dichter aus all den pse_662.018 Bindungen, Zwängen und Aufträgen macht, wie er das, was pse_662.019 sie ihm geben oder aufdrängen, zum echten Kunstwerk pse_662.020 formt. Es ist »zu bedenken, daß ein Einfluß an sich noch nichts pse_662.021 erklärt, daß immer die Frage noch offen bleibt, was aus dem pse_662.022 Einfluß geworden ist, ob sich sein Sinn erhalten, verändert pse_662.023 oder ins Gegenteil verkehrt hat. Darüber gibt uns nur der pse_662.024 Text des Dichters zuverlässige Auskunft« (Staiger). Diese pse_662.025 Feststellung betrifft schon unmittelbar den Gehalt und die pse_662.026 künstlerische Form der Dichtung. Nicht welche Topoi ein pse_662.027 Dichter verwendet, welche Strophenformen er benützt, pse_662.028 welche Motive vorkommen und welchen Philosophen er zu pse_662.029 Rate gezogen hat, ist für das Erfassen des Kunstwerks in pse_662.030 seiner Einmaligkeit entscheidend, sondern wie er das alles in pse_662.031 ein echtes und in sich geschlossenes Kunstwerk eingeschmolzen pse_662.032 hat. Die Literaturgeschichte allerdings hat auch nach dem pse_662.033 Woher zu fragen. Die Poetik stellt bloß fest, daß es solche pse_662.034 Woher in Fülle gibt und betont damit eben die geschichtliche pse_662.035 Gebundenheit der Dichtung. Die Frage, was der Dichter pse_662.036 daraus gemacht hat, gilt aber weiter vor allem der Verwesentlichung. pse_662.037 Der echte Dichter schmilzt nicht nur alle Anregungen pse_662.038 und Formen in ein neues Ganzes ein, sondern er
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0678"n="662"/><lbn="pse_662.001"/>
und geschichtlichen Zusammenhänge ist nicht <lbn="pse_662.002"/>
bloß für das Weltbild in den Dichtungen, für die künstlerischen <lbn="pse_662.003"/>
Gestaltungen und die Kunstgesetze wichtig. Solche <lbn="pse_662.004"/>
Bindungen führen auch zu dichterischer Produktion. Man <lbn="pse_662.005"/>
macht sich nicht immer ganz klar, wie stark diese durch Aufträge, <lbn="pse_662.006"/>
Anregungen, ja sogar durch Befehle von der Gesellschaft <lbn="pse_662.007"/>
und ihren Trägern her bestimmt ist. Je mehr die Kunst <lbn="pse_662.008"/>
an bestimmte Gesellschaftsschichten, Bildungsgruppen oder <lbn="pse_662.009"/>
politische Machtgruppen gebunden ist, desto deutlicher wird <lbn="pse_662.010"/>
das der Fall sein. Das braucht auf den Wert der Dichtung <lbn="pse_662.011"/>
oder eines anderen Kunstwerks keinen Einfluß zu haben. Wir <lbn="pse_662.012"/>
denken an den »Heliand«, an die »Aeneis«, an Raffael und <lbn="pse_662.013"/>
Michelangelo, an vieles von Bach, Mozart und Beethoven <lbn="pse_662.014"/>
und einen Großteil der gesamteuropäischen Barockdichtung.</p><p><lbn="pse_662.015"/>
Dem allen gegenüber muß nun allerdings eines mit stärkster <lbn="pse_662.016"/>
Betonung herausgestellt werden: entscheidend für das <lbn="pse_662.017"/>
Kunstwerk als solches ist immer, was der Dichter aus all den <lbn="pse_662.018"/>
Bindungen, Zwängen und Aufträgen macht, wie er das, was <lbn="pse_662.019"/>
sie ihm geben oder aufdrängen, zum echten Kunstwerk <lbn="pse_662.020"/>
formt. Es ist »zu bedenken, daß ein Einfluß an sich noch nichts <lbn="pse_662.021"/>
erklärt, daß immer die Frage noch offen bleibt, was aus dem <lbn="pse_662.022"/>
Einfluß geworden ist, ob sich sein Sinn erhalten, verändert <lbn="pse_662.023"/>
oder ins Gegenteil verkehrt hat. Darüber gibt uns nur der <lbn="pse_662.024"/>
Text des Dichters zuverlässige Auskunft« (Staiger). Diese <lbn="pse_662.025"/>
Feststellung betrifft schon unmittelbar den Gehalt und die <lbn="pse_662.026"/>
künstlerische Form der Dichtung. Nicht welche Topoi ein <lbn="pse_662.027"/>
Dichter verwendet, welche Strophenformen er benützt, <lbn="pse_662.028"/>
welche Motive vorkommen und welchen Philosophen er zu <lbn="pse_662.029"/>
Rate gezogen hat, ist für das Erfassen des Kunstwerks in <lbn="pse_662.030"/>
seiner Einmaligkeit entscheidend, sondern wie er das alles in <lbn="pse_662.031"/>
ein echtes und in sich geschlossenes Kunstwerk eingeschmolzen <lbn="pse_662.032"/>
hat. Die Literaturgeschichte allerdings hat auch nach dem <lbn="pse_662.033"/>
Woher zu fragen. Die Poetik stellt bloß fest, daß es solche <lbn="pse_662.034"/>
Woher in Fülle gibt und betont damit eben die geschichtliche <lbn="pse_662.035"/>
Gebundenheit der Dichtung. Die Frage, was der Dichter <lbn="pse_662.036"/>
daraus gemacht hat, gilt aber weiter vor allem der Verwesentlichung. <lbn="pse_662.037"/>
Der echte Dichter schmilzt nicht nur alle Anregungen <lbn="pse_662.038"/>
und Formen in ein neues Ganzes ein, sondern er
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[662/0678]
pse_662.001
und geschichtlichen Zusammenhänge ist nicht pse_662.002
bloß für das Weltbild in den Dichtungen, für die künstlerischen pse_662.003
Gestaltungen und die Kunstgesetze wichtig. Solche pse_662.004
Bindungen führen auch zu dichterischer Produktion. Man pse_662.005
macht sich nicht immer ganz klar, wie stark diese durch Aufträge, pse_662.006
Anregungen, ja sogar durch Befehle von der Gesellschaft pse_662.007
und ihren Trägern her bestimmt ist. Je mehr die Kunst pse_662.008
an bestimmte Gesellschaftsschichten, Bildungsgruppen oder pse_662.009
politische Machtgruppen gebunden ist, desto deutlicher wird pse_662.010
das der Fall sein. Das braucht auf den Wert der Dichtung pse_662.011
oder eines anderen Kunstwerks keinen Einfluß zu haben. Wir pse_662.012
denken an den »Heliand«, an die »Aeneis«, an Raffael und pse_662.013
Michelangelo, an vieles von Bach, Mozart und Beethoven pse_662.014
und einen Großteil der gesamteuropäischen Barockdichtung.
pse_662.015
Dem allen gegenüber muß nun allerdings eines mit stärkster pse_662.016
Betonung herausgestellt werden: entscheidend für das pse_662.017
Kunstwerk als solches ist immer, was der Dichter aus all den pse_662.018
Bindungen, Zwängen und Aufträgen macht, wie er das, was pse_662.019
sie ihm geben oder aufdrängen, zum echten Kunstwerk pse_662.020
formt. Es ist »zu bedenken, daß ein Einfluß an sich noch nichts pse_662.021
erklärt, daß immer die Frage noch offen bleibt, was aus dem pse_662.022
Einfluß geworden ist, ob sich sein Sinn erhalten, verändert pse_662.023
oder ins Gegenteil verkehrt hat. Darüber gibt uns nur der pse_662.024
Text des Dichters zuverlässige Auskunft« (Staiger). Diese pse_662.025
Feststellung betrifft schon unmittelbar den Gehalt und die pse_662.026
künstlerische Form der Dichtung. Nicht welche Topoi ein pse_662.027
Dichter verwendet, welche Strophenformen er benützt, pse_662.028
welche Motive vorkommen und welchen Philosophen er zu pse_662.029
Rate gezogen hat, ist für das Erfassen des Kunstwerks in pse_662.030
seiner Einmaligkeit entscheidend, sondern wie er das alles in pse_662.031
ein echtes und in sich geschlossenes Kunstwerk eingeschmolzen pse_662.032
hat. Die Literaturgeschichte allerdings hat auch nach dem pse_662.033
Woher zu fragen. Die Poetik stellt bloß fest, daß es solche pse_662.034
Woher in Fülle gibt und betont damit eben die geschichtliche pse_662.035
Gebundenheit der Dichtung. Die Frage, was der Dichter pse_662.036
daraus gemacht hat, gilt aber weiter vor allem der Verwesentlichung. pse_662.037
Der echte Dichter schmilzt nicht nur alle Anregungen pse_662.038
und Formen in ein neues Ganzes ein, sondern er
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 662. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/678>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.