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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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deutlich ausgeprägter Gemeinschaftskultur, stehen im engsten pse_657.002
Wechselverkehr mit ihrem Publikum. Dem Dichter des pse_657.003
Mittelalters, aber auch dem höfischen Barockdichter, ist pse_657.004
Dichten kein monologisches Bekenntnis. Sein Lied, sein Epos, pse_657.005
sein Drama setzt das Publikum voraus. Der Ritterdichter und pse_657.006
der Barockdichter, um nur zwei sehr deutliche Beispiele anzuführen, pse_657.007
erfüllen in ihrem Dichten, durch ihre Dichtung eine pse_657.008
gesellschaftliche Funktion. Das gilt in anderer Weise für den pse_657.009
einer politischen Partei verschworenen Dichter genau so. pse_657.010
Weil diese Gebundenheit an politische Richtungen gerade in pse_657.011
unserem Jahrhundert in verschiedener Weise sehr stark wurde, pse_657.012
kommt der Dichter menschlich oft in die schwierigsten Lagen. pse_657.013
Vor allem aber schafft er sich dadurch für seine Dichtung pse_657.014
ein ganz bestimmtes Publikum und schließt damit andere pse_657.015
Schichten aus. Ein großer Teil der modernen Dichter kann pse_657.016
aus dieser Bedingtheit gar nicht mehr zu den Menschen überhaupt pse_657.017
sprechen. Auch künstlerisch bedeutet diese Bindung, pse_657.018
die der Dichter bewußt auf sich nimmt, eine bestimmte Ausrichtung. pse_657.019
Der Minnedichter des Mittelalters, der barocke Gesellschaftsdichter pse_657.020
ist an die von der Gesellschaft sanktionierten pse_657.021
und vielfach von Gesellschaften aufgestellten Regeln gebunden. pse_657.022
Man denke auch an die strengen Gesetze der Meistersänger pse_657.023
und ihre Tabulatur. Diese Bindung erstreckt sich nicht bloß pse_657.024
auf Motive, sondern auf den Strophenbau, auf das Versmaß, pse_657.025
auf die Stilebenen der sprachlichen Bilder. Daß damit nichts pse_657.026
über den Rang einer solchen Dichtung ausgesagt sein muß, pse_657.027
zeigen die großen Dichter in der Ritterzeit, zeigen aber vor pse_657.028
allem die Tragödien Racines, die innerhalb solcher gesellschaftlich pse_657.029
bedingten Gebundenheit an die Gesetze der Poetik pse_657.030
höchste dichterische Vollkommenheit erlangt haben. Neben pse_657.031
diesen Dichtern gibt es einen zweiten Typus, der diese gesellschaftliche pse_657.032
Abhängigkeit im dichterischen Schaffen weitgehend pse_657.033
ausschalten will. Es sind das Dichter, die rein aus dem pse_657.034
inneren Erlebnis heraus dichten, deren Dichten dadurch geradezu pse_657.035
etwas Bekennendes erhält. Seit dem Sturm und Drang ist pse_657.036
diese gesellschaftlich gelockerte Art der Erlebnisdichtung pse_657.037
stark in den Vordergrund getreten. Hier sind die geschichtlichen pse_657.038
Bindungen nicht mehr so deutlich, aber immer noch da.

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und vielfach von Gesellschaften aufgestellten Regeln gebunden. pse_657.022
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allem die Tragödien Racines, die innerhalb solcher gesellschaftlich pse_657.029
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diesen Dichtern gibt es einen zweiten Typus, der diese gesellschaftliche pse_657.032
Abhängigkeit im dichterischen Schaffen weitgehend pse_657.033
ausschalten will. Es sind das Dichter, die rein aus dem pse_657.034
inneren Erlebnis heraus dichten, deren Dichten dadurch geradezu pse_657.035
etwas Bekennendes erhält. Seit dem Sturm und Drang ist pse_657.036
diese gesellschaftlich gelockerte Art der Erlebnisdichtung pse_657.037
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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 657. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/673>, abgerufen am 24.11.2024.