pse_656.001 Dadurch aber, daß Dichtung in doppelter Weise an die geschichtliche pse_656.002 Wirklichkeit gebunden ist, ist sie selbst zugleich pse_656.003 ein Stück Endlichkeit. Als ein konkretes Stück Wirklichkeit, pse_656.004 das in rein materiellen Dingen (Handschriften, Buch) aufgehoben pse_656.005 ist, ist Dichtung bis zu einem gewissen Grade auch in pse_656.006 ihrem Bau, in ihrer Form geschichtlich bedingt. Ohne diese pse_656.007 Zusammenhänge kann man Dichtung in ihrer Gesamtheit gar pse_656.008 nicht voll erfassen. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen pse_656.009 ergibt sich, daß Dichtung realgeschichtlich und soziologisch pse_656.010 gegründet ist, und zwar nicht nur jede einzelne Dichtung, pse_656.011 sondern die Dichtung als solche, sie als bestimmte Wesenheit. pse_656.012 Diese reale und soziologische Fundierung wirkt sich auf die pse_656.013 Gehalte und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der pse_656.014 Dichtung in gleicher Weise aus.
pse_656.015 Der Mensch als Schöpfer
pse_656.016 Wir haben schon bei der Betrachtung der menschlichen pse_656.017 Züge jeder Dichtung die Bedeutung des Dichters auch für das pse_656.018 bestimmte Sosein einer Dichtung herausgehoben. Züge des pse_656.019 menschlichen Schöpfers werden sich in jeder Dichtung zeigen, pse_656.020 auch wenn der Dichter sich noch so bemüht, die Dichtung als pse_656.021 Gebilde aus sich hinauszustellen. Sie bleibt ein menschliches pse_656.022 Werk. Und dadurch ist sie geschichtsgebunden. Denn auch pse_656.023 der Dichter ist als Mensch mannigfach in die ganze verwickelte pse_656.024 Gesellschaftsstruktur verflochten. Auch wenn er sich dagegen pse_656.025 sträuben sollte, wenn er sich als Künstler von der Gesellschaft pse_656.026 vollkommen loslösen möchte: es gelingt ihm nicht. Das ist pse_656.027 Glück und Tragik zugleich, Notwendigkeit und Verhängnis. pse_656.028 In Goethes "Tasso" sind diese Bezüge künstlerische Gestalt pse_656.029 geworden. Aber im Schaffen der Dichtungen faltet sich diese pse_656.030 grundsätzliche und allgemeine geschichtliche Gebundenheit pse_656.031 des Schöpfers in zwei Möglichkeiten auseinander, die gerade pse_656.032 zwei Dichtertypen hervorrufen. Eine Gruppe von Dichtern pse_656.033 fühlt sich bewußt in diese Gemeinschaft hineingebunden. pse_656.034 Das kann individuell verschieden sein, aber auch zeitlich bedingt. pse_656.035 Die Dichter früherer Zeiten, besonders solcher mit
pse_656.001 Dadurch aber, daß Dichtung in doppelter Weise an die geschichtliche pse_656.002 Wirklichkeit gebunden ist, ist sie selbst zugleich pse_656.003 ein Stück Endlichkeit. Als ein konkretes Stück Wirklichkeit, pse_656.004 das in rein materiellen Dingen (Handschriften, Buch) aufgehoben pse_656.005 ist, ist Dichtung bis zu einem gewissen Grade auch in pse_656.006 ihrem Bau, in ihrer Form geschichtlich bedingt. Ohne diese pse_656.007 Zusammenhänge kann man Dichtung in ihrer Gesamtheit gar pse_656.008 nicht voll erfassen. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen pse_656.009 ergibt sich, daß Dichtung realgeschichtlich und soziologisch pse_656.010 gegründet ist, und zwar nicht nur jede einzelne Dichtung, pse_656.011 sondern die Dichtung als solche, sie als bestimmte Wesenheit. pse_656.012 Diese reale und soziologische Fundierung wirkt sich auf die pse_656.013 Gehalte und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der pse_656.014 Dichtung in gleicher Weise aus.
pse_656.015 Der Mensch als Schöpfer
pse_656.016 Wir haben schon bei der Betrachtung der menschlichen pse_656.017 Züge jeder Dichtung die Bedeutung des Dichters auch für das pse_656.018 bestimmte Sosein einer Dichtung herausgehoben. Züge des pse_656.019 menschlichen Schöpfers werden sich in jeder Dichtung zeigen, pse_656.020 auch wenn der Dichter sich noch so bemüht, die Dichtung als pse_656.021 Gebilde aus sich hinauszustellen. Sie bleibt ein menschliches pse_656.022 Werk. Und dadurch ist sie geschichtsgebunden. Denn auch pse_656.023 der Dichter ist als Mensch mannigfach in die ganze verwickelte pse_656.024 Gesellschaftsstruktur verflochten. Auch wenn er sich dagegen pse_656.025 sträuben sollte, wenn er sich als Künstler von der Gesellschaft pse_656.026 vollkommen loslösen möchte: es gelingt ihm nicht. Das ist pse_656.027 Glück und Tragik zugleich, Notwendigkeit und Verhängnis. pse_656.028 In Goethes »Tasso« sind diese Bezüge künstlerische Gestalt pse_656.029 geworden. Aber im Schaffen der Dichtungen faltet sich diese pse_656.030 grundsätzliche und allgemeine geschichtliche Gebundenheit pse_656.031 des Schöpfers in zwei Möglichkeiten auseinander, die gerade pse_656.032 zwei Dichtertypen hervorrufen. Eine Gruppe von Dichtern pse_656.033 fühlt sich bewußt in diese Gemeinschaft hineingebunden. pse_656.034 Das kann individuell verschieden sein, aber auch zeitlich bedingt. pse_656.035 Die Dichter früherer Zeiten, besonders solcher mit
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0672"n="656"/><p><lbn="pse_656.001"/>
Dadurch aber, daß Dichtung in doppelter Weise an die geschichtliche <lbn="pse_656.002"/>
Wirklichkeit gebunden ist, ist sie selbst zugleich <lbn="pse_656.003"/>
ein Stück Endlichkeit. Als ein konkretes Stück Wirklichkeit, <lbn="pse_656.004"/>
das in rein materiellen Dingen (Handschriften, Buch) aufgehoben <lbn="pse_656.005"/>
ist, ist Dichtung bis zu einem gewissen Grade auch in <lbn="pse_656.006"/>
ihrem Bau, in ihrer Form geschichtlich bedingt. Ohne diese <lbn="pse_656.007"/>
Zusammenhänge kann man Dichtung in ihrer Gesamtheit gar <lbn="pse_656.008"/>
nicht voll erfassen. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen <lbn="pse_656.009"/>
ergibt sich, daß Dichtung realgeschichtlich und soziologisch <lbn="pse_656.010"/>
gegründet ist, und zwar nicht nur jede einzelne Dichtung, <lbn="pse_656.011"/>
sondern die Dichtung als solche, sie als bestimmte Wesenheit. <lbn="pse_656.012"/>
Diese reale und soziologische Fundierung wirkt sich auf die <lbn="pse_656.013"/>
Gehalte und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der <lbn="pse_656.014"/>
Dichtung in gleicher Weise aus.</p></div><divn="3"><lbn="pse_656.015"/><head><hirendition="#c"><hirendition="#i">Der Mensch als Schöpfer</hi></hi></head><p><lbn="pse_656.016"/>
Wir haben schon bei der Betrachtung der menschlichen <lbn="pse_656.017"/>
Züge jeder Dichtung die Bedeutung des Dichters auch für das <lbn="pse_656.018"/>
bestimmte Sosein einer Dichtung herausgehoben. Züge des <lbn="pse_656.019"/>
menschlichen Schöpfers werden sich in jeder Dichtung zeigen, <lbn="pse_656.020"/>
auch wenn der Dichter sich noch so bemüht, die Dichtung als <lbn="pse_656.021"/>
Gebilde aus sich hinauszustellen. Sie bleibt ein menschliches <lbn="pse_656.022"/>
Werk. Und dadurch ist sie geschichtsgebunden. Denn auch <lbn="pse_656.023"/>
der Dichter ist als Mensch mannigfach in die ganze verwickelte <lbn="pse_656.024"/>
Gesellschaftsstruktur verflochten. Auch wenn er sich dagegen <lbn="pse_656.025"/>
sträuben sollte, wenn er sich als Künstler von der Gesellschaft <lbn="pse_656.026"/>
vollkommen loslösen möchte: es gelingt ihm nicht. Das ist <lbn="pse_656.027"/>
Glück und Tragik zugleich, Notwendigkeit und Verhängnis. <lbn="pse_656.028"/>
In Goethes »Tasso« sind diese Bezüge künstlerische Gestalt <lbn="pse_656.029"/>
geworden. Aber im Schaffen der Dichtungen faltet sich diese <lbn="pse_656.030"/>
grundsätzliche und allgemeine geschichtliche Gebundenheit <lbn="pse_656.031"/>
des Schöpfers in zwei Möglichkeiten auseinander, die gerade <lbn="pse_656.032"/>
zwei Dichtertypen hervorrufen. Eine Gruppe von Dichtern <lbn="pse_656.033"/>
fühlt sich bewußt in diese Gemeinschaft hineingebunden. <lbn="pse_656.034"/>
Das kann individuell verschieden sein, aber auch zeitlich bedingt. <lbn="pse_656.035"/>
Die Dichter früherer Zeiten, besonders solcher mit
</p></div></div></div></body></text></TEI>
[656/0672]
pse_656.001
Dadurch aber, daß Dichtung in doppelter Weise an die geschichtliche pse_656.002
Wirklichkeit gebunden ist, ist sie selbst zugleich pse_656.003
ein Stück Endlichkeit. Als ein konkretes Stück Wirklichkeit, pse_656.004
das in rein materiellen Dingen (Handschriften, Buch) aufgehoben pse_656.005
ist, ist Dichtung bis zu einem gewissen Grade auch in pse_656.006
ihrem Bau, in ihrer Form geschichtlich bedingt. Ohne diese pse_656.007
Zusammenhänge kann man Dichtung in ihrer Gesamtheit gar pse_656.008
nicht voll erfassen. Aus der Geschöpflichkeit des Menschen pse_656.009
ergibt sich, daß Dichtung realgeschichtlich und soziologisch pse_656.010
gegründet ist, und zwar nicht nur jede einzelne Dichtung, pse_656.011
sondern die Dichtung als solche, sie als bestimmte Wesenheit. pse_656.012
Diese reale und soziologische Fundierung wirkt sich auf die pse_656.013
Gehalte und die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten der pse_656.014
Dichtung in gleicher Weise aus.
pse_656.015
Der Mensch als Schöpfer pse_656.016
Wir haben schon bei der Betrachtung der menschlichen pse_656.017
Züge jeder Dichtung die Bedeutung des Dichters auch für das pse_656.018
bestimmte Sosein einer Dichtung herausgehoben. Züge des pse_656.019
menschlichen Schöpfers werden sich in jeder Dichtung zeigen, pse_656.020
auch wenn der Dichter sich noch so bemüht, die Dichtung als pse_656.021
Gebilde aus sich hinauszustellen. Sie bleibt ein menschliches pse_656.022
Werk. Und dadurch ist sie geschichtsgebunden. Denn auch pse_656.023
der Dichter ist als Mensch mannigfach in die ganze verwickelte pse_656.024
Gesellschaftsstruktur verflochten. Auch wenn er sich dagegen pse_656.025
sträuben sollte, wenn er sich als Künstler von der Gesellschaft pse_656.026
vollkommen loslösen möchte: es gelingt ihm nicht. Das ist pse_656.027
Glück und Tragik zugleich, Notwendigkeit und Verhängnis. pse_656.028
In Goethes »Tasso« sind diese Bezüge künstlerische Gestalt pse_656.029
geworden. Aber im Schaffen der Dichtungen faltet sich diese pse_656.030
grundsätzliche und allgemeine geschichtliche Gebundenheit pse_656.031
des Schöpfers in zwei Möglichkeiten auseinander, die gerade pse_656.032
zwei Dichtertypen hervorrufen. Eine Gruppe von Dichtern pse_656.033
fühlt sich bewußt in diese Gemeinschaft hineingebunden. pse_656.034
Das kann individuell verschieden sein, aber auch zeitlich bedingt. pse_656.035
Die Dichter früherer Zeiten, besonders solcher mit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 656. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/672>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.