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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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Von hier aus aber ist nun der entscheidende Unterschied pse_652.002
zwischen Tragödie und Schauspiel deutlich: die Tragik wird pse_652.003
im Schauspiel durchschritten, eindeutig überwunden; es pse_652.004
bleibt nicht beim Durchhalten der Tragik. Iphigenie wagt pse_652.005
die sittliche Entscheidung und heilt gerade dadurch alle pse_652.006
Widersprüchlichkeit. Für diesen Fall ist die Möglichkeit pse_652.007
einer geheilten Welt nach dem Durchschreiten von tiefsten pse_652.008
Erschütterungen Wirklichkeit geworden. Die innere Erhebung pse_652.009
ist groß, aber sie steht auf dem Boden des Furchtbaren, pse_652.010
das zu durchschreiten war. Der Ernst bleibt dadurch gewahrt. pse_652.011
Tell und die Schweizer vermögen sich -- durchs Schicksal pse_652.012
mannigfach begünstigt -- die Freiheit doch zu erringen. In pse_652.013
dieser Schicksalsgunst liegt ein Symbol für den naturrechtlichen pse_652.014
Anspruch eines Volkes, seiner Art gemäß zu leben. pse_652.015
Homburg gewinnt, indem er in die Lage versetzt wird, pse_652.016
selber über sein Schicksal entscheiden zu dürfen, wieder Boden pse_652.017
unter den Füßen und damit ein neues, positives Verhältnis pse_652.018
zur Welt, ohne seine innere Selbstbestimmung aufgeben zu pse_652.019
müssen. In allen drei Werken wird also die Urgegensätzlichkeit pse_652.020
der Weltstruktur überwunden, nicht durch die Wirklichkeit, pse_652.021
sondern durch die innere Kraft des Menschen, im sittlichen pse_652.022
Ringen und Vollbringen. Als Tatsache bleibt die Urgespaltenheit pse_652.023
bestehen, aber in der Kraft und Möglichkeit des pse_652.024
Menschen ruht es, sie für den Menschen zu überwinden. pse_652.025
Doch die Bedrohung bleibt; das hat der Durchgang durchs pse_652.026
Tragische unheimlich nahegebracht. Daher der Ernst, der pse_652.027
eben doch auch das Schauspiel durchklingt. Aber die Erlebnislage pse_652.028
am Schlusse eines Schauspiels ist so grundsätzlich von der pse_652.029
der Tragödie verschieden, daß die Abhebung des Schauspiels pse_652.030
als eigene Art berechtigt ist.

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[652/0668] pse_652.001 Von hier aus aber ist nun der entscheidende Unterschied pse_652.002 zwischen Tragödie und Schauspiel deutlich: die Tragik wird pse_652.003 im Schauspiel durchschritten, eindeutig überwunden; es pse_652.004 bleibt nicht beim Durchhalten der Tragik. Iphigenie wagt pse_652.005 die sittliche Entscheidung und heilt gerade dadurch alle pse_652.006 Widersprüchlichkeit. Für diesen Fall ist die Möglichkeit pse_652.007 einer geheilten Welt nach dem Durchschreiten von tiefsten pse_652.008 Erschütterungen Wirklichkeit geworden. Die innere Erhebung pse_652.009 ist groß, aber sie steht auf dem Boden des Furchtbaren, pse_652.010 das zu durchschreiten war. Der Ernst bleibt dadurch gewahrt. pse_652.011 Tell und die Schweizer vermögen sich — durchs Schicksal pse_652.012 mannigfach begünstigt — die Freiheit doch zu erringen. In pse_652.013 dieser Schicksalsgunst liegt ein Symbol für den naturrechtlichen pse_652.014 Anspruch eines Volkes, seiner Art gemäß zu leben. pse_652.015 Homburg gewinnt, indem er in die Lage versetzt wird, pse_652.016 selber über sein Schicksal entscheiden zu dürfen, wieder Boden pse_652.017 unter den Füßen und damit ein neues, positives Verhältnis pse_652.018 zur Welt, ohne seine innere Selbstbestimmung aufgeben zu pse_652.019 müssen. In allen drei Werken wird also die Urgegensätzlichkeit pse_652.020 der Weltstruktur überwunden, nicht durch die Wirklichkeit, pse_652.021 sondern durch die innere Kraft des Menschen, im sittlichen pse_652.022 Ringen und Vollbringen. Als Tatsache bleibt die Urgespaltenheit pse_652.023 bestehen, aber in der Kraft und Möglichkeit des pse_652.024 Menschen ruht es, sie für den Menschen zu überwinden. pse_652.025 Doch die Bedrohung bleibt; das hat der Durchgang durchs pse_652.026 Tragische unheimlich nahegebracht. Daher der Ernst, der pse_652.027 eben doch auch das Schauspiel durchklingt. Aber die Erlebnislage pse_652.028 am Schlusse eines Schauspiels ist so grundsätzlich von der pse_652.029 der Tragödie verschieden, daß die Abhebung des Schauspiels pse_652.030 als eigene Art berechtigt ist.

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 652. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/668>, abgerufen am 24.11.2024.