pse_652.001 Von hier aus aber ist nun der entscheidende Unterschied pse_652.002 zwischen Tragödie und Schauspiel deutlich: die Tragik wird pse_652.003 im Schauspiel durchschritten, eindeutig überwunden; es pse_652.004 bleibt nicht beim Durchhalten der Tragik. Iphigenie wagt pse_652.005 die sittliche Entscheidung und heilt gerade dadurch alle pse_652.006 Widersprüchlichkeit. Für diesen Fall ist die Möglichkeit pse_652.007 einer geheilten Welt nach dem Durchschreiten von tiefsten pse_652.008 Erschütterungen Wirklichkeit geworden. Die innere Erhebung pse_652.009 ist groß, aber sie steht auf dem Boden des Furchtbaren, pse_652.010 das zu durchschreiten war. Der Ernst bleibt dadurch gewahrt. pse_652.011 Tell und die Schweizer vermögen sich -- durchs Schicksal pse_652.012 mannigfach begünstigt -- die Freiheit doch zu erringen. In pse_652.013 dieser Schicksalsgunst liegt ein Symbol für den naturrechtlichen pse_652.014 Anspruch eines Volkes, seiner Art gemäß zu leben. pse_652.015 Homburg gewinnt, indem er in die Lage versetzt wird, pse_652.016 selber über sein Schicksal entscheiden zu dürfen, wieder Boden pse_652.017 unter den Füßen und damit ein neues, positives Verhältnis pse_652.018 zur Welt, ohne seine innere Selbstbestimmung aufgeben zu pse_652.019 müssen. In allen drei Werken wird also die Urgegensätzlichkeit pse_652.020 der Weltstruktur überwunden, nicht durch die Wirklichkeit, pse_652.021 sondern durch die innere Kraft des Menschen, im sittlichen pse_652.022 Ringen und Vollbringen. Als Tatsache bleibt die Urgespaltenheit pse_652.023 bestehen, aber in der Kraft und Möglichkeit des pse_652.024 Menschen ruht es, sie für den Menschen zu überwinden. pse_652.025 Doch die Bedrohung bleibt; das hat der Durchgang durchs pse_652.026 Tragische unheimlich nahegebracht. Daher der Ernst, der pse_652.027 eben doch auch das Schauspiel durchklingt. Aber die Erlebnislage pse_652.028 am Schlusse eines Schauspiels ist so grundsätzlich von der pse_652.029 der Tragödie verschieden, daß die Abhebung des Schauspiels pse_652.030 als eigene Art berechtigt ist.
pse_652.001 Von hier aus aber ist nun der entscheidende Unterschied pse_652.002 zwischen Tragödie und Schauspiel deutlich: die Tragik wird pse_652.003 im Schauspiel durchschritten, eindeutig überwunden; es pse_652.004 bleibt nicht beim Durchhalten der Tragik. Iphigenie wagt pse_652.005 die sittliche Entscheidung und heilt gerade dadurch alle pse_652.006 Widersprüchlichkeit. Für diesen Fall ist die Möglichkeit pse_652.007 einer geheilten Welt nach dem Durchschreiten von tiefsten pse_652.008 Erschütterungen Wirklichkeit geworden. Die innere Erhebung pse_652.009 ist groß, aber sie steht auf dem Boden des Furchtbaren, pse_652.010 das zu durchschreiten war. Der Ernst bleibt dadurch gewahrt. pse_652.011 Tell und die Schweizer vermögen sich — durchs Schicksal pse_652.012 mannigfach begünstigt — die Freiheit doch zu erringen. In pse_652.013 dieser Schicksalsgunst liegt ein Symbol für den naturrechtlichen pse_652.014 Anspruch eines Volkes, seiner Art gemäß zu leben. pse_652.015 Homburg gewinnt, indem er in die Lage versetzt wird, pse_652.016 selber über sein Schicksal entscheiden zu dürfen, wieder Boden pse_652.017 unter den Füßen und damit ein neues, positives Verhältnis pse_652.018 zur Welt, ohne seine innere Selbstbestimmung aufgeben zu pse_652.019 müssen. In allen drei Werken wird also die Urgegensätzlichkeit pse_652.020 der Weltstruktur überwunden, nicht durch die Wirklichkeit, pse_652.021 sondern durch die innere Kraft des Menschen, im sittlichen pse_652.022 Ringen und Vollbringen. Als Tatsache bleibt die Urgespaltenheit pse_652.023 bestehen, aber in der Kraft und Möglichkeit des pse_652.024 Menschen ruht es, sie für den Menschen zu überwinden. pse_652.025 Doch die Bedrohung bleibt; das hat der Durchgang durchs pse_652.026 Tragische unheimlich nahegebracht. Daher der Ernst, der pse_652.027 eben doch auch das Schauspiel durchklingt. Aber die Erlebnislage pse_652.028 am Schlusse eines Schauspiels ist so grundsätzlich von der pse_652.029 der Tragödie verschieden, daß die Abhebung des Schauspiels pse_652.030 als eigene Art berechtigt ist.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><pbfacs="#f0668"n="652"/><p><lbn="pse_652.001"/>
Von hier aus aber ist nun der entscheidende Unterschied <lbn="pse_652.002"/>
zwischen Tragödie und Schauspiel deutlich: die Tragik wird <lbn="pse_652.003"/>
im Schauspiel durchschritten, eindeutig überwunden; es <lbn="pse_652.004"/>
bleibt nicht beim Durchhalten der Tragik. Iphigenie wagt <lbn="pse_652.005"/>
die sittliche Entscheidung und heilt gerade dadurch alle <lbn="pse_652.006"/>
Widersprüchlichkeit. Für diesen Fall ist die Möglichkeit <lbn="pse_652.007"/>
einer geheilten Welt nach dem Durchschreiten von tiefsten <lbn="pse_652.008"/>
Erschütterungen Wirklichkeit geworden. Die innere Erhebung <lbn="pse_652.009"/>
ist groß, aber sie steht auf dem Boden des Furchtbaren, <lbn="pse_652.010"/>
das zu durchschreiten war. Der Ernst bleibt dadurch gewahrt. <lbn="pse_652.011"/>
Tell und die Schweizer vermögen sich — durchs Schicksal <lbn="pse_652.012"/>
mannigfach begünstigt — die Freiheit doch zu erringen. In <lbn="pse_652.013"/>
dieser Schicksalsgunst liegt ein Symbol für den naturrechtlichen <lbn="pse_652.014"/>
Anspruch eines Volkes, seiner Art gemäß zu leben. <lbn="pse_652.015"/>
Homburg gewinnt, indem er in die Lage versetzt wird, <lbn="pse_652.016"/>
selber über sein Schicksal entscheiden zu dürfen, wieder Boden <lbn="pse_652.017"/>
unter den Füßen und damit ein neues, positives Verhältnis <lbn="pse_652.018"/>
zur Welt, ohne seine innere Selbstbestimmung aufgeben zu <lbn="pse_652.019"/>
müssen. In allen drei Werken wird also die Urgegensätzlichkeit <lbn="pse_652.020"/>
der Weltstruktur überwunden, nicht durch die Wirklichkeit, <lbn="pse_652.021"/>
sondern durch die innere Kraft des Menschen, im sittlichen <lbn="pse_652.022"/>
Ringen und Vollbringen. Als Tatsache bleibt die Urgespaltenheit <lbn="pse_652.023"/>
bestehen, aber in der Kraft und Möglichkeit des <lbn="pse_652.024"/>
Menschen ruht es, sie für den Menschen zu überwinden. <lbn="pse_652.025"/>
Doch die Bedrohung bleibt; das hat der Durchgang durchs <lbn="pse_652.026"/>
Tragische unheimlich nahegebracht. Daher der Ernst, der <lbn="pse_652.027"/>
eben doch auch das Schauspiel durchklingt. Aber die Erlebnislage <lbn="pse_652.028"/>
am Schlusse eines Schauspiels ist so grundsätzlich von der <lbn="pse_652.029"/>
der Tragödie verschieden, daß die Abhebung des Schauspiels <lbn="pse_652.030"/>
als eigene Art berechtigt ist.</p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[652/0668]
pse_652.001
Von hier aus aber ist nun der entscheidende Unterschied pse_652.002
zwischen Tragödie und Schauspiel deutlich: die Tragik wird pse_652.003
im Schauspiel durchschritten, eindeutig überwunden; es pse_652.004
bleibt nicht beim Durchhalten der Tragik. Iphigenie wagt pse_652.005
die sittliche Entscheidung und heilt gerade dadurch alle pse_652.006
Widersprüchlichkeit. Für diesen Fall ist die Möglichkeit pse_652.007
einer geheilten Welt nach dem Durchschreiten von tiefsten pse_652.008
Erschütterungen Wirklichkeit geworden. Die innere Erhebung pse_652.009
ist groß, aber sie steht auf dem Boden des Furchtbaren, pse_652.010
das zu durchschreiten war. Der Ernst bleibt dadurch gewahrt. pse_652.011
Tell und die Schweizer vermögen sich — durchs Schicksal pse_652.012
mannigfach begünstigt — die Freiheit doch zu erringen. In pse_652.013
dieser Schicksalsgunst liegt ein Symbol für den naturrechtlichen pse_652.014
Anspruch eines Volkes, seiner Art gemäß zu leben. pse_652.015
Homburg gewinnt, indem er in die Lage versetzt wird, pse_652.016
selber über sein Schicksal entscheiden zu dürfen, wieder Boden pse_652.017
unter den Füßen und damit ein neues, positives Verhältnis pse_652.018
zur Welt, ohne seine innere Selbstbestimmung aufgeben zu pse_652.019
müssen. In allen drei Werken wird also die Urgegensätzlichkeit pse_652.020
der Weltstruktur überwunden, nicht durch die Wirklichkeit, pse_652.021
sondern durch die innere Kraft des Menschen, im sittlichen pse_652.022
Ringen und Vollbringen. Als Tatsache bleibt die Urgespaltenheit pse_652.023
bestehen, aber in der Kraft und Möglichkeit des pse_652.024
Menschen ruht es, sie für den Menschen zu überwinden. pse_652.025
Doch die Bedrohung bleibt; das hat der Durchgang durchs pse_652.026
Tragische unheimlich nahegebracht. Daher der Ernst, der pse_652.027
eben doch auch das Schauspiel durchklingt. Aber die Erlebnislage pse_652.028
am Schlusse eines Schauspiels ist so grundsätzlich von der pse_652.029
der Tragödie verschieden, daß die Abhebung des Schauspiels pse_652.030
als eigene Art berechtigt ist.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:
Bogensignaturen: keine Angabe;
Druckfehler: keine Angabe;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: wie Vorlage;
I/J in Fraktur: wie Vorlage;
Kolumnentitel: nicht übernommen;
Kustoden: nicht übernommen;
langes s (ſ): wie Vorlage;
Normalisierungen: keine;
rundes r (ꝛ): wie Vorlage;
Seitenumbrüche markiert: ja;
Silbentrennung: nicht übernommen;
u/v bzw. U/V: wie Vorlage;
Vokale mit übergest. e: wie Vorlage;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: ja;
Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 652. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/668>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.