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Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959.

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pse_650.001
ja gesellschaftlichen Untüchtigkeit durchbrochen pse_650.002
hat. Aber er bleibt immer noch der Verhaltene, Verlegene. pse_650.003
Als er endlich seine Verlobung bekennen muß, sagt er pse_650.004
"mit großer gene", "Gratulier Sie mir" und dann: "Aber tret Sie pse_650.005
dann gleich weg und misch Sie's nicht in die Konversation. Sie pse_650.006
hat sich -- ich hab mich -- wir haben uns miteinander verlobt."

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Dabei ist es auch dem Lustspiel möglich, die Tiefe der pse_650.008
Weltschau zu erringen. Das ist am stärksten spürbar in Grillparzers pse_650.009
Werk. Denn das Schlußbild, das Bischof Gregor pse_650.010
spricht, ist so ergreifend groß, daß es zunächst alles Lustspielartige pse_650.011
zudeckt. Nur dadurch, daß er eben aus solcher Schau pse_650.012
ohne Gram und heiter auf diese irdische Welt blicken kann, pse_650.013
bleibt die Heiterkeit erhalten. Sie erklingt deutlich in den pse_650.014
eben zitierten Worten und bricht nochmals durch ganz am pse_650.015
Ende, als es heißt: "Und diese da -- sie mögen sich vertragen", pse_650.016
womit wieder ein Liebesglück gestiftet ist. Aber es verliert pse_650.017
alles Derbe oder Spaßige unter dem nachwirkenden Eindruck pse_650.018
der Worte:

pse_650.019
Ich weiß ein Land, das aller Wahrheit Thron, pse_650.020
Wo selbst die Lüge nur ein buntes Kleid, pse_650.021
Das schaffend er genannt: Vergänglichkeit, pse_650.022
Und das er umhing dem Geschlecht der Sünden, pse_650.023
Daß ihre Augen nicht am Strahl erblinden.

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Diese Verse rücken das Lustspiel Grillparzers nahe an eine pse_650.025
letzte bedeutende Art des Dramas heran: an das Schauspiel. Auch pse_650.026
dieser Begriff ist zumindest in der nichtdeutschen modernen pse_650.027
Poetik nicht allgemein üblich. Äußerlich sind wir schon dadurch pse_650.028
gezwungen, ihn einzuführen, daß wir nur solche Werke pse_650.029
als Tragödien bezeichnet haben, die auch in ihrem Schluß pse_650.030
tragisch sind, ja dort erst recht, mag auch die Tragik verhüllt pse_650.031
sein wie in Goethes "Tasso". Wieder bieten sich drei große pse_650.032
Beispiele an: Goethes "Iphigenie", Schillers "Wilhelm Tell" pse_650.033
und Kleists "Prinz von Homburg". Tatsächlich wird Goethes pse_650.034
Werk manchmal, und nicht bloß von der klassischen französischen pse_650.035
Poetik her, als Tragödie bezeichnet, und "Tell" wird pse_650.036
in einer neueren Ästhetik als heroische Komödie etikettiert. pse_650.037
Auch die drei letzten Spiele Shakespeares reihen sich hier ein, pse_650.038
denn mit den anderen Artbezeichnungen kommen wir ihnen

pse_650.001
ja gesellschaftlichen Untüchtigkeit durchbrochen pse_650.002
hat. Aber er bleibt immer noch der Verhaltene, Verlegene. pse_650.003
Als er endlich seine Verlobung bekennen muß, sagt er pse_650.004
»mit großer gêne«, »Gratulier Sie mir« und dann: »Aber tret Sie pse_650.005
dann gleich weg und misch Sie's nicht in die Konversation. Sie pse_650.006
hat sich — ich hab mich — wir haben uns miteinander verlobt.«

pse_650.007
Dabei ist es auch dem Lustspiel möglich, die Tiefe der pse_650.008
Weltschau zu erringen. Das ist am stärksten spürbar in Grillparzers pse_650.009
Werk. Denn das Schlußbild, das Bischof Gregor pse_650.010
spricht, ist so ergreifend groß, daß es zunächst alles Lustspielartige pse_650.011
zudeckt. Nur dadurch, daß er eben aus solcher Schau pse_650.012
ohne Gram und heiter auf diese irdische Welt blicken kann, pse_650.013
bleibt die Heiterkeit erhalten. Sie erklingt deutlich in den pse_650.014
eben zitierten Worten und bricht nochmals durch ganz am pse_650.015
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alles Derbe oder Spaßige unter dem nachwirkenden Eindruck pse_650.018
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Ich weiß ein Land, das aller Wahrheit Thron, pse_650.020
Wo selbst die Lüge nur ein buntes Kleid, pse_650.021
Das schaffend er genannt: Vergänglichkeit, pse_650.022
Und das er umhing dem Geschlecht der Sünden, pse_650.023
Daß ihre Augen nicht am Strahl erblinden.

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Diese Verse rücken das Lustspiel Grillparzers nahe an eine pse_650.025
letzte bedeutende Art des Dramas heran: an das Schauspiel. Auch pse_650.026
dieser Begriff ist zumindest in der nichtdeutschen modernen pse_650.027
Poetik nicht allgemein üblich. Äußerlich sind wir schon dadurch pse_650.028
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als Tragödien bezeichnet haben, die auch in ihrem Schluß pse_650.030
tragisch sind, ja dort erst recht, mag auch die Tragik verhüllt pse_650.031
sein wie in Goethes »Tasso«. Wieder bieten sich drei große pse_650.032
Beispiele an: Goethes »Iphigenie«, Schillers »Wilhelm Tell« pse_650.033
und Kleists »Prinz von Homburg«. Tatsächlich wird Goethes pse_650.034
Werk manchmal, und nicht bloß von der klassischen französischen pse_650.035
Poetik her, als Tragödie bezeichnet, und »Tell« wird pse_650.036
in einer neueren Ästhetik als heroische Komödie etikettiert. pse_650.037
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[650/0666] pse_650.001 ja gesellschaftlichen Untüchtigkeit durchbrochen pse_650.002 hat. Aber er bleibt immer noch der Verhaltene, Verlegene. pse_650.003 Als er endlich seine Verlobung bekennen muß, sagt er pse_650.004 »mit großer gêne«, »Gratulier Sie mir« und dann: »Aber tret Sie pse_650.005 dann gleich weg und misch Sie's nicht in die Konversation. Sie pse_650.006 hat sich — ich hab mich — wir haben uns miteinander verlobt.« pse_650.007 Dabei ist es auch dem Lustspiel möglich, die Tiefe der pse_650.008 Weltschau zu erringen. Das ist am stärksten spürbar in Grillparzers pse_650.009 Werk. Denn das Schlußbild, das Bischof Gregor pse_650.010 spricht, ist so ergreifend groß, daß es zunächst alles Lustspielartige pse_650.011 zudeckt. Nur dadurch, daß er eben aus solcher Schau pse_650.012 ohne Gram und heiter auf diese irdische Welt blicken kann, pse_650.013 bleibt die Heiterkeit erhalten. Sie erklingt deutlich in den pse_650.014 eben zitierten Worten und bricht nochmals durch ganz am pse_650.015 Ende, als es heißt: »Und diese da — sie mögen sich vertragen«, pse_650.016 womit wieder ein Liebesglück gestiftet ist. Aber es verliert pse_650.017 alles Derbe oder Spaßige unter dem nachwirkenden Eindruck pse_650.018 der Worte: pse_650.019 Ich weiß ein Land, das aller Wahrheit Thron, pse_650.020 Wo selbst die Lüge nur ein buntes Kleid, pse_650.021 Das schaffend er genannt: Vergänglichkeit, pse_650.022 Und das er umhing dem Geschlecht der Sünden, pse_650.023 Daß ihre Augen nicht am Strahl erblinden. pse_650.024 Diese Verse rücken das Lustspiel Grillparzers nahe an eine pse_650.025 letzte bedeutende Art des Dramas heran: an das Schauspiel. Auch pse_650.026 dieser Begriff ist zumindest in der nichtdeutschen modernen pse_650.027 Poetik nicht allgemein üblich. Äußerlich sind wir schon dadurch pse_650.028 gezwungen, ihn einzuführen, daß wir nur solche Werke pse_650.029 als Tragödien bezeichnet haben, die auch in ihrem Schluß pse_650.030 tragisch sind, ja dort erst recht, mag auch die Tragik verhüllt pse_650.031 sein wie in Goethes »Tasso«. Wieder bieten sich drei große pse_650.032 Beispiele an: Goethes »Iphigenie«, Schillers »Wilhelm Tell« pse_650.033 und Kleists »Prinz von Homburg«. Tatsächlich wird Goethes pse_650.034 Werk manchmal, und nicht bloß von der klassischen französischen pse_650.035 Poetik her, als Tragödie bezeichnet, und »Tell« wird pse_650.036 in einer neueren Ästhetik als heroische Komödie etikettiert. pse_650.037 Auch die drei letzten Spiele Shakespeares reihen sich hier ein, pse_650.038 denn mit den anderen Artbezeichnungen kommen wir ihnen

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Zitationshilfe: Seidler, Herbert: Die Dichtung: Wesen, Form, Dasein. Stuttgart, 1959, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/seidler_poetik_1959/666>, abgerufen am 24.11.2024.